Lautsprecher-Technik: Einfluss der Schwingspule auf den Klang?

Lautsprecher-Technik: Einfluss der Schwingspule auf den Klang?

100mm Schwingspulen: Träge Masse oder der heilige Gral der Kontrolle?

Wie komme ich eigentlich dazu, heute über Schwingspulendurchmesser zu philosophieren? Tja, schuld ist – wie so oft – unsere kleine, feine WhatsApp-Selbsthilfegruppe für anonyme Hifiholiker. Da postet der Martin neulich ganz unschuldig ein Bild von einem seiner Görlich-Treiber. Ihr wisst schon, diese legendären Dinger mit der Hartschaum-Membran, die aussehen wie aus dem Raumschiff Orion geklaut. Man sah schön den Antrieb, und sofort grätscht Marius rein.

Ihr müsst wissen: Marius ist unser Mann fürs „So muss High End  klingen“(positivem Sinne). Bei ihm stehen Magico S1 MkII, und die sind für ihn der absolute heilige Gral. Er fragte also direkt nach dem Spulendurchmesser des Görlichs. Warum? Weil er weiß, dass in seinen geliebten Magicos im Bassbereich ziemliche Oschis von Spulen werkeln – wohl bis zu 100mm. Ich dachte mir, ich bring mal etwas „Vintage-High-Tech“ ins Spiel und warf die Dynaudio Confidence 5 in den Ring. Mein Argument: „Hier Jungs, guckt mal, die C5 hat beim 20W100 Tieftöner vorne auch eine 100mm Spule, und der innere Bass im Compound-System immerhin noch 75mm.“

Daraufhin Marius, siegessicher: „Nein! Das stimmt nicht! Alle Dynaudio Bässe haben maximal 75mm. Das ist deren Standard!“ Tja. Ein PDF der Confidence 5 und zwei Minuten später nahm Marius seine Aussagen zurück. Der 20W100 hat – Überraschung – eine 100mm Spule. Und was lernen wir aus der Geschichte? Nichts. Außer, dass wir Nerds sind. Aber die Frage blieb hängen: Warum zur Hölle baut man 100mm Spulen in Chassis ein, die keine reinen Subwoofer für Erdbeben-Simulationen sind?

Mythos: „Große Spulen sind langsam für Mittenwiedergabe“

Räumen wir mal mit dem größten Stammtisch-Märchen auf. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass eine riesige 100mm Spule automatisch „langsam“ und träge klingt in den Mitten, weil sie ja schwerer ist als eine filigrane 25mm Spule. Leute, die Physik lässt sich nicht verarschen, aber sie ist komplexer als „schwer = langsam“. Ja, eine 100mm Spule bringt mehr Kupfer und Trägermaterial auf die Waage. Die bewegte Masse steigt. Aber Newtons zweites Gesetz (F=m⋅a) gilt auch hier. Die Beschleunigung (a) hängt nicht nur von der Masse (m) ab, sondern von der Kraft (F), die auf sie wirkt. Wenn ich also die Spule vergrößere, habe ich zwar mehr Gewicht, aber ich habe auch Platz für einen brutalen Magnetantrieb. Wenn der Kraftfaktor (B⋅L) im gleichen oder höheren Verhältnis zur Masse steigt, dann ist das Chassis kein Stück „langsamer“. Im Gegenteil: Es ist viel kontrollierter. Wichtig für Mittenwiedergabe für in der Confidence 5

Das Konzept: Hubraum statt Drehzahl – aber mit Turbo

Schauen wir uns mal die Konzepte an, die das auf die Spitze treiben.

1. Der High-Tech Ansatz (Magico & Co.) Wie schafft man es, eine riesige Spule in einem 2-Wege-Lautsprecher wie der S1 einzusetzen, ohne dass der Mittelton absäuft? Hier kommen moderne Werkstoffe ins Spiel. Wenn die Spule schwer ist, muss der Rest leichter werden. Firmen wie Magico nutzen Membranen aus Karbon, Graphene oder Nanotec-Materialien. Die sind federleicht und bocksteif. Das spart Gramm, die man dann in die Spule investieren kann. Der Witz an der 100mm Spule im 2-Wege-Betrieb ist nicht nur die Belastbarkeit. Es ist der Antriebspunkt. Eine kleine 25mm Spule drückt genau in die Mitte der Membran. Bei hohen Frequenzen fängt die Membran außen an zu flattern (Partialschwingungen). Eine 100mm Spule greift die Membran fast in der Mitte ihres Radius an. Das stützt die komplette Konstruktion mechanisch ab. Das Resultat: Die Membran arbeitet viel länger kolbenförmig sauber – perfekt, wenn der Tieftöner auch Mitten wiedergeben muss.

2. Die Dynaudio-Schule (Confidence 5 / 20W100) Kommen wir zu meinem „Beweisstück A“ aus dem Chat. Dynaudio hat das mit dem 20W100 extrem clever gelöst. Hier sitzt der Magnet oft innerhalb der riesigen Spule (Center Magnet System). Das Ziel war hier nicht maximaler Schalldruck, sondern absolute Impulstreue. Durch den riesigen Durchmesser hat die Spule eine gigantische Oberfläche zur Kühlung. Thermische Kompression? Fehlanzeige. Egal ob leises Pling oder Paukenschlag – der Widerstand steht wie eine Eins. Und jetzt kommt der Clou zur „Schnelligkeit“: Ein riesiger Antrieb hat eine extrem hohe elektrische Dämpfung. Sobald das Signal vom Verstärker aufhört, steht die Membran. Sofort. Das ist wie eine Keramikbremse im Porsche. Das Ein- und Ausschwingverhalten bei diesen Dingern ist phänomenal, gerade weil der Antrieb so überdimensioniert ist.

Fazit: Die Physik kennt keine Dogmen – nur Lösungen

Machen wir den Sack zu. Was nehmen wir aus der kleinen „Besserwisser-Schlacht“ in unserer WhatsApp-Gruppe mit – außer der Genugtuung, dass ich beim Dynaudio-Datenblatt recht hatte?

Die Diskussion kleinere Spülen  gegen 100mm ist am Ende keine Frage von „richtig“ oder „falsch“, und schon gar nicht von „schnell“ oder „langsam“. Wer behauptet, eine große Spule sei per se träge, hat die Rechnung ohne den Wirt – sprich: ohne den Magneten – gemacht.

1. Kontrolle schlägt Masse: Ja, eine 100mm-Spule (und mehr) wie in Magicos Bässe oder in der Dynaudio Confidence 5 bringt mehr Gewicht auf die Waage. Aber wie wir gesehen haben, ist Masse im High-End-Audio relativ. Wenn ich dieser Masse einen Antrieb zur Seite stelle, der vor Kraft kaum laufen kann (riesige Ferrit-Ringe oder Neodym-Pakete), dann spielt das Gewicht für die Impulstreue kaum noch eine Rolle. Entscheidender ist die Bremswirkung: Ein so gewaltiger Antrieb induziert beim Ausschwingen eine enorme Gegenkraft. Das Chassis wird vom Verstärker quasi in den Schwitzkasten genommen. Das Resultat ist kein „fetter“ Bass, sondern ein extrem trockener, der ansatzlos startet und stoppt. Das ist keine Trägheit, das ist absolute Dominanz.

2. Die Material-Symbiose: Marius‘ Magico S1 zeigt zudem, wo die Reise heute hingeht. Eine 100mm-Spule in einem 2-Wege-Lautsprecher funktioniert nur, wenn man den Rest der bewegten Teile auf Diät setzt. Hier kommen Graphene, Karbon und Nanotech ins Spiel. Da die Membran selbst fast nichts mehr wiegt, darf die Spule ruhig etwas zulegen. Mehr noch: Der große Durchmesser stabilisiert diese ultraleichten Membranen mechanisch. Anstatt wie bei einer kleinen Spule in der Mitte zu „stochern“ und außen Resonanzen zu erzeugen, treibt die große Spule die Membran an einem optimalen Radius an. Das minimiert das Aufbrechen (Breakup-Modes) und ermöglicht erst, dass so ein Bass-Monster sauber bis in den Mittelton spielt. Das ist Ingenieurskunst am Limit.

3. Souveränität durch Coolness: Der vielleicht wichtigste Punkt für den Klangcharakter ist aber die Thermik. Eine kleine Spule ist wie ein nervöser Kleinwagen-Motor: Trittst du drauf, wird er heiß und verliert Leistung (Power Compression). Eine 75mm oder 100mm Spule ist der V8-Block. Sie lacht über Pegelspitzen. Der Widerstand bleibt konstant, die Dynamik wird nicht komprimiert. Das ist der Grund, warum diese Lautsprecher so eine unerschütterliche Ruhe und Autorität ausstrahlen, selbst wenn das Orchester tobt.

4. Die Ehre der Leichtgewichte: Aber brechen wir auch eine Lanze für die „Kleinen“. Die klassische 25mm oder 32mm oder oder oder…  Spule hat absolut ihre Daseinsberechtigung – nämlich dort, wo Agilität bei moderaten Pegeln gefragt ist. Wer keine Stadion-Lautstärke braucht, der profitiert bei kleinen Spulen von der geringeren Masse und vor allem der niedrigen Induktivität. Das macht sie oft spritziger und offener im Mittelton. Ein Lotus Elise (kleine Spule) ist auf der kurvigen Landstraße schließlich oft spaßiger als ein schwerer V12-Bolide. Wenn es um Feingeist, Stimmenwiedergabe und das „kleine Besteck“ geht, sind die großen Spulen oft einfach „Overkill“ und technisch gar nicht nötig.

Die Moral von der Geschicht‘: Marius hatte unrecht mit den „maximal 75mm“ bei Dynaudio, aber er hat recht mit seiner Liebe zum Konzept. Ob nun Vintage-Legende (Görlich/Dynaudio C5) oder High-Tech-Skulptur (Magico): Der Einsatz von überdimensionierten Schwingspulen ist kein Marketing-Gag für den Stammtisch („Meiner ist größer“). Es ist ein valider, wenn auch teurer Weg, um physikalische Probleme wie Hitze und Membran-Resonanzen zu erschlagen.

Also: Bevor ihr das nächste Mal im Chat pauschal urteilt – erst mal schauen, was für ein Motor unter der Haube steckt. Manchmal ist „Viel hilft viel“ eben doch die beste Lösung.

Kriterium Kleine Spule (25 – 38 mm) Große Spule (75 – 100 mm)
Hitzemanagement (Thermik) Nachteil: Geringe Oberfläche. Erhitzt sich schnell bei Last. Führt zu Power Compression (Dynamikverlust). Vorteil: Riesige Kühlfläche. Bleibt auch bei hohen Strömen „cool“. Der Widerstand und die Dynamik bleiben stabil.
Bewegte Masse ($M_{ms}$) Vorteil: Sehr leicht. Benötigt weniger Antriebskraft für schnelle Impulse. Nachteil: Schwerer (mehr Kupfer & Trägermaterial). Braucht extrem starke Magnete, um nicht träge zu klingen.
Mechanische Stabilität Nachteil: Treibt die Membran nur im Zentrum an. Gefahr von Cone Breakup(Taumeln/Verbiegen) bei großen Membranen. Vorteil: Treibt die Membran am optimalen Radius an. Stabilisiert den Konus mechanisch. Perfektes kolbenförmiges Schwingen.
Frequenzbereich Vorteil: Geringe Induktivität. Spielt sauber bis in den Mittelton (2-3 kHz). Ideal für 2-Wege-Boxen. Nachteil: Hohe Induktivität wirkt als Tiefpass. Meist nur für Bass (< 500 Hz) geeignet (Ausnahme: High-Tech-Konzepte wie Magico).
Konstruktionsaufwand Vorteil: Günstiger und einfacher herzustellen. Standard-Magnete reichen aus. Nachteil: Teuer. Erfordert riesige Magnetsysteme (z.B. Hexacoil, Neodym), um die Masse zu kompensieren.
Klang-Charakter Spritzig, schnell, feinauflösend, aber bei Pegel oft „gepresst“. Souverän, extrem kontrolliert, trocken und autoritär – auch bei brachialen Pegeln.
Typischer Einsatz Klassische Hifi-Boxen, 2-Wege-Regallautsprecher, Tiefmitteltöner. High-End-Boliden (Dynaudio, Audio Technology), Subwoofer, Referenz-Systeme.

Quellen:

1. Thermische Kompression & Belastbarkeit (Klippel)

Thema: Warum große Spulen (mehr Oberfläche) weniger Dynamik verlieren. Prof. Dr. Wolfgang Klippel ist weltweit dieKoryphäe, wenn es um das Messen von Lautsprecher-Verzerrungen geht. Seine Arbeit belegt wissenschaftlich, wie Hitze den Widerstand () verändert und den Schalldruck senkt.

2. Membran-Stabilität & Antriebspunkt (Audio Technology / Skaaning)

Thema: Warum große Spulen die Membran besser kontrollieren. Per Skaaning (Gründer von Audio Technology und Mitbegründer von Dynaudio) hat das Konzept der großen Spulen im High-End maßgeblich geprägt. Er erklärt hier, warum der Antrieb am halben Radius (statt im Zentrum) mechanisch überlegen ist.

  • Quelle: Audio Technology – „Voice Coil Technology & Cone Control“

  • Relevanz: Erklärt das Prinzip, dass eine große Spule das „Wobbeln“ (Taumeln) der Membran verhindert und warum man bei großen Spulen spezielle Belüftungen braucht.

  • Link: Audio Technology: Technology & Philosophy (Abschnitt „Voice Coil“ und „Ventilation“)

3. Induktivität & Bandbreite (Voice Coil Magazine / Vance Dickason)

Thema: Die Nachteile großer Spulen im Mittelton (Induktivität ). Vance Dickason (Autor des „Loudspeaker Design Cookbook“) behandelt in seinem Magazin regelmäßig Spulendesigns. Hier geht es darum, wie die Induktivität als Tiefpassfilter wirkt.

  • Quelle: AudioXpress / Voice Coil Magazine

  • Relevanz: Erklärt den Zusammenhang zwischen Wicklungshöhe, Durchmesser und der induktiven Reaktanz (). Das ist der wissenschaftliche Beleg, warum 100mm Spulen ohne Tricks (wie Kurzschlussringe/Kupferkappen) schlecht Mitten wiedergeben.

  • Link: Understanding Voice Coil Inductance (AudioXpress)

4. Das Dynaudio-Konzept (Whitepaper / Academy)

Thema: Center-Magnet-System und thermische Masse. Dynaudio hat jahrelang erklärt, warum sie den Magneten in die Spule packen (bei den alten Modellen wie der C5).

  • Quelle: Dynaudio „Ask the Expert“ / Technology

  • Relevanz: Bestätigt deine Aussage zur Confidence 5. Dynaudio nutzt große Spulen für eine „lineare Auslenkung und thermische Stabilität“.

  • Link: Dynaudio: Why do we use aluminium voice coils? (Hier erklären sie auch, warum sie leichtes Aluminium statt Kupfer nehmen, um trotz 75mm/100mm Durchmesser die Masse gering zu halten – wichtiges Argument für deinen Punkt „Masse ist relativ“!).

5. Grundlagen der Physik (Thiele/Small Parameter)

Thema: (Kraftfaktor) vs. (Masse). Für die, die Formeln wollen.

  • Quelle: Wikipedia / Rod Elliott (ESP)

  • Relevanz: Die Formel für den Wirkungsgrad zeigt, dass Masse () den Wirkungsgrad senkt, aber ein starker Antrieb () ihn erhöht.

    • Formel:

    • Das beweist: Wenn ich die Spule vergrößere (Masse hoch), aber den Magneten auch vergrößere (Bl hoch), bleibt der Lautsprecher „schnell“ bzw. effizient.

  • Link: Rod Elliott: Thiele/Small Parameters Explained