John Surman Karin Krog Pierre Favre – Such Winters of Memory
John Surman, Karin Krog, Pierre Favre – Such Winters of Memory wie eine Platte aus 1982 die High End Anlage beflügeln kann
- Label: ECM Records – ECM 1254
- Format: Vinyl, LP, Album, Stream, Youtube
- Country: Germany / Oslo
- Released: 1982
- Genre: Electronic, Jazz
- Style: Free Jazz, Contemporary Jazz
- Amazon Link: John Surman, Karin Krog, Pierre Favre – Such Winters of Memory
Viele meiner Leser und auch mittlerweile meine Abonnenten auf YouTube haben in letzter Zeit meinen vielleicht etwas außergewöhnlichen Musikgeschmack erkunden können. Meine Idee hinter diesen „Audio Booklets“ ist es ja, nicht immer nur stumpf Geräte in Augenschein zu nehmen, sondern endlich mal das Wesentliche in den Fokus zu rücken: die Musik.
Schließlich geben wir alle Unsummen an Geld aus, schleppen kiloschwere Verstärker und richten Boxen millimetergenau aus, um genau eines zu erreichen: Musik so zu entdecken, wie es eigentlich vom Interpreten und den Musikingenieuren gedacht wurde. Das ist der heilige Gral, nach dem wir suchen.
Heute habe ich euch ein Album mitgebracht, das manch einer vielleicht übersehen hat, das aber für mich die Essenz dessen ist, was High-End-Audio eigentlich leisten muss: „Such Winters of Memory“ von John Surman, Karin Krog und Pierre Favre.
Warum ECM Records?
ECM Records finde ich persönlich sehr stark, zumal das Label eine ganz genaue Vorstellung davon hat, wie die Musik wirken soll. Manfred Eicher, der Kopf dahinter, produziert nicht einfach Musik, er produziert „Klanglandschaften“. Und genau diese Handwerkskunst können NUR Geräte interpretieren, welche die Musik nicht auf das beschränken, was sie technisch gerade so hinbekommen, oder eben nicht. Für Besitzer limitierter Anlagen werden die Geheimnisse solcher Alben und Titel leider immer verschlossen bleiben. Da fehlt dann einfach die Luft, der Raum, das „Atmen“ der Aufnahme.
Aber kommen wir zum Album selbst. Ja, es ist außergewöhnlich, vielleicht sogar sperrig für den Mainstream-Hörer, aber es erzeugt eine Atmosphäre und eine Tiefe, die ihresgleichen sucht.
Die Interpreten: Woher sie kommen und wie sie zur Musik fanden
Um zu verstehen, warum dieses Album so klingt, müssen wir uns die Menschen dahinter ansehen. Das sind keine Retorten-Popstars, das sind echte Charaktere mit Geschichte.
John Surman (Baritonsaxophon, Sopransaxophon, Bassklarinette, Synthesizer)
John Surman ist das Herzstück dieser Aufnahme. Er wurde 1944 in Tavistock, Devon (Großbritannien), geboren. Seine musikalischen Wurzeln sind spannend: Er fing nicht etwa in verrauchten Jazzclubs an, sondern als Chorknabe. Später lernte er Klarinette am London College of Music. Was Surman so einzigartig macht, ist, dass er den Jazz nicht nur als amerikanische Kunstform begriff, sondern seine eigenen englischen Folk-Wurzeln mit einbrachte. Er war einer der ersten, der das oft stiefmütterlich behandelte Baritonsaxophon als echtes Soloinstrument etablierte. Auf „Such Winters of Memory“ nutzt er zudem Synthesizer, um diese typischen, schwebenden Klangteppiche zu weben, die perfekt mit den akustischen Instrumenten verschmelzen.
Karin Krog (Gesang, Oberheim Ring Modulator)
Karin Krog ist eine Institution. Die Norwegerin (geboren 1937 in Oslo) hat Jazz im Blut – ihr Urgroßvater war bereits Komponist. Sie begann schon als Teenager in den 50er Jahren, sich auf Jam-Sessions in Oslo (zum Beispiel im „Penguin Club“) einen Namen zu machen. Krog war nie die typische „Jazz-Diva“, die nur Standards trällert. Sie war immer experimentierfreudig, arbeitete früh mit elektronischen Effekten und Ring-Modulatoren, um ihre Stimme zu verfremden. Auf diesem Album hält sie sich teilweise zurück, nutzt ihre Stimme fast instrumentell, was eine unglaubliche Intimität erzeugt. Übrigens sind Surman und Krog auch privat ein langjähriges Paar, was vielleicht diese blinde musikalische Verständigung auf der Aufnahme erklärt.
Pierre Favre (Schlagzeug, Perkussion)
Der Dritte im Bunde ist der Schweizer Pierre Favre (geboren 1937 in Le Locle). Favre ist ein Autodidakt. Er begann mit 15 Jahren Schlagzeug zu spielen, brachte sich alles selbst bei und spielte schon mit 17 professionell. Er fing im Bebop und Dixieland an, merkte aber schnell, dass ihm das reine „Taktgeben“ nicht reichte. Er entwickelte das Konzept des „melodischen Schlagzeugs“. Er sieht das Drumset nicht als Rhythmusknecht, sondern als Orchester. Auf diesem Album „trommelt“ er nicht einfach, er malt mit Klängen.
Das Studio und die Technik: Wo die Magie passierte
Jetzt wird es für uns Tech-Nerds interessant. Aufgenommen wurde „Such Winters of Memory“ im Dezember 1982. Und zwar nicht irgendwo, sondern im legendären Talent Studio in Oslo.
An den Reglern saß kein Geringerer als Jan Erik Kongshaug. Wenn ihr ECM-Platten liebt, liebt ihr eigentlich den Sound von Kongshaug. Er ist der Architekt dieses klaren, transparenten, nordischen Klangs.
Der „Monitor-Check“: Worüber wurde das abgemischt?
Ich habe mich mal in die Tiefen der Studiohistorie begeben, um herauszufinden, was Kongshaug damals eigentlich benutzt hat, um diesen Sound zu beurteilen. In den frühen 80ern, speziell im Talent Studio und später im Rainbow Studio, war Jan Erik Kongshaug bekannt dafür, auf Lautsprecher zu setzen, die nichts beschönigen, aber extrem präzise sind. Die Haupt-Abhöre (Main Monitors) in diesem Studio zu dieser Zeit waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Bowers & Wilkins (B&W) 801 (Series 80).
Diese Lautsprecher waren damals der Goldstandard in vielen Klassik- und High-End-Jazz-Studios (auch bei der EMI oder Decca). Kongshaug liebte sie für ihre Neutralität. Oft standen auch noch die berüchtigten Yamaha NS-10 auf der Meterbridge für den „Radio-Check“, aber die Tiefe und den Raum, den wir auf der Platte hören, hat er über die großen B&W beurteilt. Das erklärt auch, warum diese Aufnahme auf modernen High-End-Anlagen so gut funktioniert – sie wurde auf Lautsprechern gemischt, die den Vorläufern unserer heutigen High-End-Boliden gar nicht so unähnlich sind.
Der Hörtest: Volles Brett Atmosphäre
Die Töne und die Instrumente schweben bei diesem Album nicht nur im Raum, sondern umhüllen einen regelrecht und lassen einen „volles Brett“ an der Kreativität der Beteiligten teilhaben.
Titel wie „My Friend“ oder „On the Wing Again“ haben mich komplett abgeholt. Bei „My Friend“ ist es dieses Zwiegespräch zwischen Krogs Stimme und Surmans Instrumenten, das Gänsehaut verursacht. Es ist keine Musik, die dich anschreit, sie lädt dich ein. „On the Wing Again“ ist dann so eine Nummer, bei der du die Augen schließt und vergisst, dass du in deinem Wohnzimmer sitzt. Die Synthesizer-Flächen legen ein Fundament, und darüber fliegen die akustischen Instrumente.
Der Gear-Check
Ich habe das Album in zwei Konstellationen intensiv gehört, und das Ergebnis war jedes Mal faszinierend, aber unterschiedlich:
- Das große Besteck: Über die Dynaudio Confidence 5 angetrieben vom mächtigen McIntosh MA 9000.
Hier zeigt sich die wahre Größe der Aufnahme. Der McIntosh hat die Kraft, auch die tiefsten Synthesizer-Drones im Kellergeschoss kontrolliert in den Raum zu drücken, ohne dass es schwammig wird. Die Confidence 5 staffelt die Bühne so tief, dass man meint, man könnte zwischen Pierre Favres Becken hindurchlaufen. Da ist diese Souveränität, die ECM-Aufnahmen brauchen. - Die feine Kleine: Über die Dynaudio Focus 140 an der T+A PA 1500.
Und wisst ihr was? Auch das macht unfassbar Spaß. Die T+A Elektronik ist ja bekannt für ihre Analytik und Schnelligkeit. Die Focus 140 zaubert zwar nicht ganz diesen riesigen Konzertsaal wie die Confidence, aber sie bringt die Stimmen und die Feinheiten der Perkussion unglaublich direkt und spritzig rüber. Es beweist mal wieder: Eine gute Aufnahme klingt auf jeder guten Anlage, aber sie wächst mit dem Equipment.
Die Titelliste: Ein akustischer Rundgang
Hier mal der Überblick über die Tracks, damit ihr wisst, was euch erwartet, wenn ihr die Nadel auflegt oder den Stream startet:
- 1. Saturday Night (6:10)
Der Opener zieht einen sofort rein. Surman legt mit dem Synthesizer breite, fast düstere Klangteppiche, die den Hörraum sofort „fluten“. Darauf baut sich langsam eine Spannung auf. Perfekt, um zu checken, ob die Lautsprecher eine stabile Bühne aufbauen können, wenn elektronische und akustische Elemente verschmelzen. - 2. Sunday Morning (6:24)
Der Titel ist Programm. Es wird organischer, luftiger. Hier glänzt Surmans Saxophon mit diesem typischen, leicht melancholischen ECM-Hall. Die Ortung des Instruments muss hier messerscharf in der Mitte sein, während die Begleitung den Raum weit öffnet. - 3. My Friend (4:49)
Ein absolutes Highlight für Vokal-Fans. Karin Krogs Stimme ist hier extrem intim eingefangen. Man hört jedes Luftholen, jede kleinste Phrasierung. Wenn eure Anlage Stimmen verfärbt, werdet ihr es hier sofort merken. Auf der Confidence 5 steht sie quasi physisch im Raum. - 4. Seaside (2:55)
Ein kurzes, impressionistisches Stück. Hier zeigt Pierre Favre, dass er keine „Drums“ spielt, sondern Perkussion zelebriert. Das Metall der Becken muss glasklar und ohne Schärfe kommen. Ein feiner Test für die Hochtonauflösung. - 5. On The Wing Again (10:35)
Das Herzstück und Epos des Albums. Über zehn Minuten Dynamik pur. Es beginnt schwebend und steigert sich in eine intensive Dichte. Hier muss der Verstärker (wie der MA 9000) Kontrolle beweisen, denn wenn die tiefen Synthesizer-Drones auf das komplexe Saxophonspiel treffen, brechen schwache Netzteile gerne mal ein und das Klangbild weicht auf. - 6. Expressions (5:16)
Hier wird es etwas experimenteller und freier. Ein Dialog der drei Musiker, der viel „Luft“ zwischen den Noten lässt. Ein Fest für Analytiker, die hören wollen, wie schnell die Transienten der Anschläge verarbeitet werden. - 7. Mother Of Light (5:45)
Sakral, weit, fast schon mystisch. Krog nutzt ihre Stimme hier eher instrumentell. Der Raum, den Jan Erik Kongshaug hier eingefangen hat, ist riesig. Die Tiefe des Raumes (Tiefenstaffelung) ist hier das Kriterium – die Musik darf nicht am Lautsprecher kleben. - 8. Waiting For The Clouds (3:40)
Der Ausklang. Sehr ruhig, meditativ, fast zerbrechlich. Entlässt einen sanft aus dieser doch sehr intensiven „Winterreise“. Danach will man erstmal keine andere Musik hören, sondern die Stille genießen.
Fazit
Ich bin mir vollkommen bewusst, dass meine Art, diese „Audio Booklets“ zu präsentieren, für den typischen YouTube-Algorithmus Gift ist. In einer Welt, in der es oft nur noch um „schneller, teurer, protziger“ geht und die Aufmerksamkeitsspanne kaum für ein 10-Minuten-Video reicht, ist das Vorstellen eines atmosphärischen Jazz-Albums aus den 80ern fast schon ein rebellischer Akt.
Die traurige Wahrheit ist doch: Die meisten konsumieren HiFi-Content wie Fast Food. Sie wollen eine reine Verkaufspräsentation, wollen sich berieseln lassen oder – und das ist das Schlimmste – betäubt vor dem Bildschirm sitzen und in fremde Wohnzimmer gaffen. Es geht oft nur noch darum, zu sehen, wer den dickeren Verstärker im Rack stehen hat, statt sich damit zu beschäftigen, was dieses Equipment eigentlich transportieren soll. Das ist Geräte-Fetischismus, aber kein Musikgenuss.
Aber ich mache das hier nicht für die Masse, die beim Anblick von zappelnden VU-Metern schon zufrieden ist. Ich mache das für die Hörer, die verstanden haben, dass unser Hobby im Kern eine emotionale Reise ist.
Schließlich dreht sich bei unserem Hobby doch ausschließlich um Musik. Alles andere ist Mittel zum Zweck. Wir geben Unsummen an Geld aus, wir optimieren die Raumakustik, wir schleppen schwere Lautsprecher und Verstärker-Boliden in unsere Hörräume. Warum? Nicht damit es gut aussieht. Sondern damit wir Momente wie auf „Such Winters of Memory“ erleben können. Damit wir John Surmans Saxophon nicht nur hören, sondern spüren. Damit die Kühle des Osloer Studios und die Wärme der analogen Aufnahme direkt in unser Wohnzimmer transportiert werden.
Dieses Album ist für mich ein Lackmustest für jede Anlage. Eine Kette, die nur „laut“ und „Bass“ kann, wird an der Fragilität und der Räumlichkeit von Karin Krogs Stimme und Pierre Favres Beckenarbeit gnadenlos scheitern. Aber eine Anlage, die mit Bedacht zusammengestellt wurde – sei es die große Confidence am McIntosh oder die feine Focus an der T+A – wird hier aufblühen und euch zeigen, wofür ihr jeden einzelnen Euro investiert habt. Ich hoffe wirklich, dass einige echte Musikliebhaber unter euch, die vielleicht bisher nur auf die Hardware geschielt haben, durch meine Audio Booklets aufwachen. Hört auf zu gaffen, fangt an zu hören. Lasst die Geräte verschwinden und die Musik entstehen.
Besorgt euch dieses Album. Setzt euch hin. Schenkt euch ein Glas Wein ein und schaltet die Welt da draußen ab. Wenn die Nadel sich senkt oder der Stream startet und ihr plötzlich diese unendliche Tiefe spürt, dann wisst ihr, warum wir diesen ganzen Wahnsinn eigentlich betreiben.