
Lenhardt-Studie 1991: Wie Menschen Ultraschall über Knochenleitung hören
Lenhardt et al. (1991): Ultraschall hören – ein Mythos? Nein, eine Frage der Leitung!
Dass Menschen mit ihren Ohren in der Regel nur Frequenzen zwischen 20 Hz und 20 kHz wahrnehmen, ist eine gängige Annahme – und gilt für die Luftleitung über das Trommelfell auch weitgehend als gesichert. Doch eine bemerkenswerte Studie aus dem Jahr 1991 von Lenhardt, Skellett, Wang und Clarke hat das klassische Verständnis menschlicher Hörfähigkeit nachhaltig ins Wanken gebracht. Der Titel: „Human Audition of Ultrasound“, erschienen in der Fachzeitschrift The Journal of the Acoustical Society of America (JASA).
Die Forscher untersuchten die Möglichkeit, ob Menschen Frequenzen oberhalb von 20 kHz – also im Ultraschallbereich – wahrnehmen können, wenn diese nicht wie üblich über die Luftleitung ins Ohr gelangen, sondern über die Knochenleitung, insbesondere am Mastoid (dem Knochenbereich direkt hinter dem Ohr). Und die Ergebnisse waren überraschend.
Knochenleitung: Der alternative Hörweg
Zentraler Punkt der Studie war die sogenannte Bone Conduction – ein Phänomen, bei dem Schallwellen nicht durch das Trommelfell und die Gehörknöchelchen weitergeleitet werden, sondern direkt über den Schädelknochen das Innenohr (Cochlea) stimulieren. Bekannt ist dieser Effekt unter anderem bei bestimmten Kopfhörern oder bei Taucherkommunikation, aber seine volle Bedeutung wird oft unterschätzt.
In einer Reihe von Experimenten wurden Probanden Ultraschallsignale im Frequenzbereich von 20 bis 100 kHz über spezielle Vibrationsgeber (Bone-Conduction-Transducer) appliziert – gezielt am Mastoid. Das Ergebnis: Viele Testpersonen konnten Signale bis zu 62,5 kHz deutlich wahrnehmen, obwohl sie über Luftleitung keinerlei akustische Reize im Ultraschallbereich detektieren konnten. Die Wahrnehmung äußerte sich dabei nicht als klassischer Ton, sondern oft als ein „Gefühl“, eine Empfindung im Kopf – dennoch klar unterscheidbar und bewusst registriert.
Was bedeutet das?
Diese Studie zeigt eindrucksvoll, dass Ultraschall beim Menschen nicht grundsätzlich irrelevant oder „unhörbar“ ist. Vielmehr hängt es vom Übertragungsweg ab. Das herkömmliche Audiogramm, das beim HNO-Arzt erstellt wird, testet fast ausschließlich die Luftleitung – und dabei endet die Reise bei rund 20 kHz. Doch über die Knochenleitung verschieben sich diese Grenzen erheblich.
Lenhardt et al. vermuten, dass der Ultraschall im Innenohr durch mechanische Modulation oder sogenannte „envelope demodulation“ (eine Art Hüllkurvenverarbeitung) wahrgenommen wird. Zudem könnten neuronale Mechanismen im Gehirn beteiligt sein, die sich von der klassischen auditiven Verarbeitung unterscheiden.
Relevanz für Technik, Gesundheit und Psychoakustik
Der Gedanke, dass Menschen auf Ultraschall reagieren – auch wenn sie ihn nicht bewusst als Ton wahrnehmen – hat weitreichende Konsequenzen. In der Psychoakustik stellt sich damit die Frage, ob hochfrequente Signale (z. B. bei modernen Geräten, Alarmanlagen, Ultraschallreinigern oder selbst manchen Digitalgeräten) unbewusst auf den Menschen einwirken können. Der Körper hört mit – auch wenn wir glauben, nichts zu hören.
Gerade audiophile Menschen oder Nutzer mit besonders empfindlicher Sinneswahrnehmung berichten mitunter von „unangenehmen“ Empfindungen bei bestimmten technischen Geräten, ohne dass diese hörbare Töne erzeugen. Lenhardt et al. liefern hier eine wissenschaftlich fundierte Grundlage, diese subjektiven Eindrücke ernst zu nehmen.
Schlusswort:
Die Studie von Lenhardt et al. aus dem Jahr 1991 zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass die menschliche Hörwahrnehmung nicht auf die klassischen 20 Hz bis 20 kHz beschränkt ist – zumindest nicht, wenn man die Knochenleitung als alternativen Übertragungsweg mit einbezieht. Frequenzen bis über 60 kHz können so offenbar nicht nur technisch erzeugt, sondern auch biologisch wahrgenommen werden – wenngleich auf eine subtilere, weniger tonale, aber dennoch reale Art.
Diese Erkenntnis hat weitreichende Konsequenzen, insbesondere auch für das Feld der HiFi- und High-End-Audio-Technik. Sie liefert eine plausible, physiologisch begründete Erklärung dafür, warum manche Hörer – meist mit trainiertem Gehör oder einer besonders ausgeprägten Sensibilität – Unterschiede zwischen hochwertigen Audioanlagen und vermeintlich „einfacherem“ HiFi-Equipment wahrnehmen können, die über das hinausgehen, was klassische Messwerte (wie Frequenzgang oder Verzerrung) zu erklären vermögen.
Einige Menschen berichten, dass bestimmte High-End-Anlagen ein „luftigeres“, „offeneres“, „räumlicheres“ Klangbild erzeugen – oder dass sie sich schlicht wohler fühlen beim Hören. Diese subtilen Eindrücke werden oft belächelt oder als Einbildung abgetan, da sie sich mit konventionellen Hörtests nicht objektivieren lassen. Doch wenn man die Ergebnisse von Lenhardt et al. berücksichtigt, ergibt sich eine andere Perspektive: Wenn über die Knochenleitung tatsächlich auch Ultraschallanteile mittransportiert werden – wie sie beispielsweise durch besonders breitbandige Lautsprecher, hochwertige Treiber oder minimale Verzerrungen in den Höhen entstehen –, dann kann genau das der Grund dafür sein, dass manche Menschen Unterschiede wahrnehmen, wo andere nichts bemerken.
Damit öffnet sich eine Tür zu einem erweiterten Verständnis von Hörkultur und Audiotechnik: Nicht nur die klassischen Parameter zählen, sondern auch physiologische Wege der Reizaufnahme, die bislang nur am Rande Beachtung fanden. Die Studie erinnert uns daran, dass der Mensch ein vielschichtiges Sinneswesen ist – und dass „Hören“ mehr sein kann als nur das, was wir bewusst als Ton registrieren.
In einer Zeit, in der digitale Technik immer stärker auf Effizienz und Bandbreitenbegrenzung getrimmt wird, zeigt Lenhardt uns eine wichtige Grenze auf: Die technische Reduktion auf das „Hörbare“ im engeren Sinn kann uns letztlich auch ein Stück Erlebnisqualität kosten – gerade dort, wo Klang nicht nur Information, sondern auch Emotion, Tiefe und Körpererfahrung bedeutet.
Mit anderen Worten: Vielleicht liegt in den Höhen, die wir angeblich nicht hören, genau der Unterschied, den manche spüren – und andere nie verstehen werden.
Quellenangaben zur Studie:
Lenhardt et al. (1991) – Human ultrasonic speech perception
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Science-Artikel (PDF-Download verfügbar): Direkt zur Originalpublikation über bone-conducted Ultraschall:
Science (1991), „Human Ultrasonic Speech Perception“ – PDF -
PubMed-Eintrag mit DOI & Abstract:
PubMed – Lenhardt et al., 1991, PMID 2063208
Oohashi et al. (2000) – Hypersonic Effect
-
Journal of Neurophysiology (2000) – frei zugängliches PDF:
“Inaudible high-frequency sounds affect brain activity: hypersonic effect” – PDF -
ResearchGate (ResearchGate-PDF):
PDF -
PubMed-Eintrag mit DOI & Abstract:
PubMed – Oohashi et al., 2000, PMID 10848570
Weitere hilfreiche Referenzen (optional):
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Lenhardt u. a. (Science 1991) – als PDF im Hearing Review verfügbar:
Audible Ultrasound… Revisited – Hearing Review (PDF) hearingreview.com -
Oohashi et al. (2000) – hypersonic effect-Studie über ResearchGate:
Inaudible High-Frequency Sounds Affect Brain Activity – PDF
Zusätzliche wissenschaftliche Kontexte & verwandte Quellen:
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Yoneyama, M., Fujimoto, J., Kawamo, Y., & Sasabe, S. (2000).
Evaluation of the Effects of Ultrasound on the Human Body Using Bone-Conducted Sound.
NHK Science & Technical Research Laboratories. -
Oohashi, T., Nishina, E., Honda, M., et al. (2000).
Inaudible high-frequency sounds affect brain activity: Hypersonic effect.
Journal of Neurophysiology, 83(6), 3548–3558.
DOI: 10.1152/jn.2000.83.6.3548
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