
Hören- Messen- Halbwissen – wie der Dunning-Kruger-Effekt HiFi beeinflusst
Der Dunning-Kruger-Effekt im HiFi-Kosmos
Zwischen Messgläubigkeit und Meinungsgewalt: Warum Halbwissen so laut ist
Wer sich im HiFi- oder High-End-Bereich regelmäßig bewegt, stolpert früher oder später über ein altbekanntes psychologisches Phänomen: den Dunning-Kruger-Effekt. Gemeint ist die Tendenz, dass Menschen mit wenig Fachwissen ihre Fähigkeiten maßlos überschätzen – einfach, weil sie zu wenig wissen, um zu erkennen, was ihnen fehlt.
In der Audiowelt zeigt sich das besonders deutlich bei selbsternannten HiFi-Gurus, Influencern und Foren-Kommentatoren, die mit großer Selbstsicherheit auftreten – dabei aber oft grundlegende akustische oder technische Prinzipien falsch deuten. Besonders dann, wenn komplexe Konzepte wie Neutralität oder Bandbreite mit Schlagworten verwechselt werden.
„Neutralität ist das Fehlen an Bandbreite“ – ernsthaft?
Solche Aussagen klingen provokant, manchmal sogar tiefgründig – halten aber keiner sachlichen Prüfung stand.
Neutralität meint nichts anderes, als dass ein System den Originalklang möglichst unverfälscht wiedergibt – ohne Eigenklang, ohne Betonung bestimmter Frequenzbereiche. Bandbreite hingegen bezeichnet den Frequenzbereich, den ein System abbilden kann – unabhängig davon, wie es das tut. Wer beides gleichsetzt, hat offenbar ein Problem mit den Grundlagen.
Doch so einfach ist es auch nicht. Denn auf der anderen Seite gibt es auch die sture Messfraktion – Menschen, die glauben, alles müsse sich technisch erklären und objektiv messen lassen. Wer sich aber zu sehr in Diagrammen verliert, läuft Gefahr, den wichtigsten Faktor zu vergessen: den Menschen, der hört.
Subjektivität ist kein Feind, aber sie braucht Kontext
Wer sagt:
„Ich höre, was gut ist“ – hat damit nicht zwangsläufig Unrecht. Hören ist individuell, emotional, körperlich. Aber wer daraus den Schluss zieht, dass technische Grundlagen oder Messtechnik überflüssig seien, bewegt sich auf dünnem Eis.
Umgekehrt ist auch der Satz:
„Messwerte sagen alles“ – gefährlich eindimensional. Denn Klang ist nicht nur Frequenzgang, Klirr und Impulsantwort. Der Hörer reagiert auf Details, die sich nicht immer sofort messen oder mit einem einzigen Wert beschreiben lassen.
Und genau hier wird der HiFi-Diskurs problematisch:
Wenn subjektives Empfinden mit objektiver Wahrheit verwechselt wird.
Wenn Messwerte blind glorifiziert oder pauschal abgelehnt werden.
Wenn jemand sagt, sein Wohnzimmer sei klanglich perfekt – ohne je mit Raumakustik oder Nachhallzeit gearbeitet zu haben.
Oder wenn behauptet wird, ein Kabelwechsel habe „die Bühne geöffnet“, ohne dass jemals ein Doppelblindtest stattgefunden hat.
Solche Aussagen können sowohl aus ehrlicher Erfahrung stammen – oder eben aus einer Mischung aus Placebo, Wunschdenken und Halbwissen. Das macht sie nicht per se falsch, aber auch nicht belastbar.
Der Dunning-Kruger-Effekt wirkt in beide Richtungen
Und das ist entscheidend: Auch die Leute, die sich für besonders rational und „objektiv“ halten, können Opfer dieses Effekts sein – wenn sie glauben, allein mit Zahlen und Graphen komplexe Wahrnehmungen erklären zu können. Wer auf der Suche nach „dem perfekten Klang“ ist, braucht beides: Verständnis für technische Zusammenhänge und Offenheit für subjektive Wahrnehmung – aber bitte mit Demut, nicht mit Dogma.
Fazit: Zwischen Ahnung und Meinung liegt Erfahrung
Die HiFi-Welt ist voll von Meinungen – viele davon laut, manche fundiert, andere nur gut verpackt. Der Dunning-Kruger-Effekt zeigt, wie schnell Selbstüberschätzung zur Bühne wird, gerade in einer Szene, in der sowohl Technik als auch Emotion eine Rolle spielen.
Wer glaubt, mit ein paar Frequenzgang-Diagrammen die Musikalität einer Anlage abschließend beurteilen zu können, irrt ebenso wie jemand, der nach fünf Minuten Probehören im Wohnzimmer die „absolute Wahrheit“ über ein Lautsprecherkonzept verkündet. HiFi ist kein reines Zahlenspiel, aber eben auch kein esoterisches Klangorakel. Es ist ein Zusammenspiel – von Technik, Wahrnehmung, Raum, Erfahrung und ja: auch persönlichem Geschmack.
Doch Geschmack ersetzt keine Kenntnis. Und ein schönes YouTube-Setup macht noch keinen Toningenieur.
Deshalb lohnt es sich, immer wieder kritisch zu hinterfragen – auch sich selbst.
Wer neutralen Klang als „langweilig“ abtut, hat vielleicht noch nie ein wirklich gutes, lineares System in einem passenden Raum gehört.
Wer glaubt, ein Cinch-Kabel könne den Bass „eröffnen“, ist möglicherweise eher Opfer seiner Erwartung als eines Quantensprungs im Klang.
Und wer meint, allein Messwerte seien das Maß aller Dinge, übersieht, wie komplex und individuell menschliches Hören tatsächlich ist.
Wirkliches Verständnis zeigt sich dort, wo Wissen auf Erfahrung trifft – und wo man bereit ist, die eigene Perspektive ständig zu hinterfragen.
Nicht jeder, der laut spricht, hat recht. Und nicht alles, was sich gut anhört, klingt auch gut.
Darum: Weniger polarisieren. Mehr verstehen. Und öfter mal den eigenen Ohren UND dem Messmikrofon vertrauen – am besten gemeinsam.
Grundlagen & Psychologie des Dunning-Kruger-Effekts
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Originalstudie:
Kruger, J., & Dunning, D. (1999). „Unskilled and unaware of it: how difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments.“
➤ Journal of Personality and Social Psychology, 77(6), 1121–1134
https://doi.org/10.1037/0022-3514.77.6.1121 -
Erklärung des Effekts durch die APA (American Psychological Association):
https://www.apa.org/gradpsych/2017/11/dunning-kruger -
Laienverständliche Erklärung durch Scientific American:
[„We Are All Confident Idiots“ – David Dunning (2014)]
https://www.scientificamerican.com/article/we-are-all-confident-idiots/
HiFi, subjektive Wahrnehmung und Messkritik
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Audio Science Review (ASR) – Community und Messplattform mit stark datenbasierter Ausrichtung, zeigt regelmäßig, wie subjektive Eindrücke ohne Messungen fehlleiten können:
https://www.audiosciencereview.com -
Ethan Winer – „The Audio Expert“ << Werbung Amazon. (Buch & Artikel) – Audioingenieur, der sich wissenschaftlich mit Mythen wie Kabelklang, Raumakustik und Wahrnehmung beschäftigt:
➤ https://ethanwiner.com/aes/
➤ Buch: The Audio Expert (Focal Press, 2012) -
Floyd E. Toole – „Sound Reproduction“ Werbung Amazon. (3rd edition, Routledge, 2017)
➤ Führende Quelle zur objektiven Beurteilung von Lautsprechern und Raumakustik.
➤ Toole war Forschungsleiter bei Harman und zeigt fundiert, warum viele Subjektiveindrücke vorhersehbar und messbar sind.
➤ Werbung Amazon: ISBN: 9781138921368
Wissenschaft über Hören & Selbstüberschätzung
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„Audiophile or Audio-Fool?“ – Sean Olive / Harman Research
➤ Sean Olive (Harman) forscht seit Jahren über objektive und subjektive Beurteilung von Klang.
➤ https://seanolive.blogspot.com -
Psychoakustik-Grundlagen (Hearing and Perception) –
Fastl, H., & Zwicker, E. (2007). „Psychoacoustics: Facts and Models“
➤ Teil der Springer-Serie über Hörwahrnehmung.
➤ Werbung Amazon: SBN: 978-3540302656