John Surman Upon Reflection
High-Fidelity Nachtschicht: John Surman, der Mark Levinson 585 und die Grenzen der Abstraktion
Eine Rezension zwischen Technik, Zeitgeist und Gefühl.
- Label: ECM Records – ECM 1148
- Format: Vinyl, LP, Album, Stream, CD
- Land: Germany
- Veröffentlicht: Nov. 1979
- Genre: Jazz, Ambiente
- Stil: Contemporary Jazz, Ambient
- Amazon Link: John Surman
Es gibt Alben, die hört man, weil man sie liebt. Und es gibt Alben, die hört man, weil man verstehen will, wozu die eigene Anlage fähig ist. John Surmans Upon Reflection (ECM, 1979) ist ein solches Werk – das zwar kein ein audiophiles Schwergewicht ist, aber Bewunderung fordert, aber nicht immer Sinn zurückgibt.
Das Setup: Ein Wechsel der Giganten
Alles begann mit der Lust am Testen. An einem Abend entschied ich mich spontan, meinen Jeff Rowland Continuum 250 aus dem Schlafzimmer zu verbannen und ihn durch ein ganz anderes Kaliber zu ersetzen: den großen, schweren Mark Levinson No. 585 Vollverstärker. Als Zuspieler diente der BlueSound Node 2i Streamer, direkt angekoppelt an den internen Wandler des Mark Levinson. Bevor ich mich in die nächtliche Ruhe begeben wollte, musste ich wissen: Wie schlägt sich der mächtige 585 im Verbund mit meinen KEF Reference 205 Lautsprechern? Handy in die Hand, Apple Music gestartet und die Bibliothek durchforstet.
Die meisten meiner Leser wissen, dass ich das Label ECM (Edition of Contemporary Music) mag. Unter anderem deshalb, weil ich die dort gepflegte Klangqualität sehr schätze – Manfred Eichers Produktion ist legendär für ihre Räumlichkeit und Klarheit. Doch ich muss gestehen: Einige dieser Alben sind vom Inhalt für mich stellenweise sehr abstrakt und ergeben melodisch kaum einen Sinn. Dennoch speichere ich fast alles ab, was das Label ECM trägt. So kam ich zu Upon Reflection.
Der erste Eindruck: Zeitreise oder Gegenwart?
Als ich zur Entspannung ansetzte und „Play“ auf dem Touchscreen drückte, war ich sofort gefangen. Ich lauschte dem Geschehen aufmerksam zu. Schon nach wenigen Minuten stellte ich mir die Frage: Ist dieses Album wirklich aus dem Jahre 1979? Titel 1 („Edges of Illusion“) wirkt so modern, so zeitlos schwebend, dass er problemlos eine Produktion aus dem Jahr 2025 sein könnte. Die Art, wie der Synthesizer pulsiert und das Saxophon sich darüber legt, hat fast etwas Filmisches, Blockbuster-Artiges. Doch die folgenden Titel holten mich schnell auf den Boden der Tatsachen zurück und verdeutlichten das Entstehungsjahr 1979 vollends.
Wer ist John Surman?
Um dieses Hörerlebnis einzuordnen, muss man verstehen, wer da eigentlich spielt. John Surman (geboren 1944 in Devon, England) ist kein typischer Jazz-Musiker nach amerikanischem Vorbild. Er gilt als einer der wichtigsten Architekten des sogenannten „European Jazz“. Während viele seiner Zeitgenossen versuchten, den Bebop aus New York zu kopieren, ging Surman einen anderen Weg. Er spezialisierte sich auf das Baritonsaxophon (ein im Jazz eher unhandliches, tiefes Instrument), das Sopransaxophon und die Bassklarinette. Sein Werdegang ist geprägt von der Suche nach einer eigenen, englischen Identität im Jazz – oft unter Einbeziehung von Folklore und kirchenmusikalischen Einflüssen.
Das Besondere an „Upon Reflection“: Der Titel des Albums ist wörtlich zu nehmen. Es ist eine Reflexion Surmans mit sich selbst. In einer Zeit, als das im Jazz noch unüblich war, nutzte er im Studio Overdubbing-Techniken. Er spielt auf dem Album fast alle Instrumente selbst und schichtet Saxophon-Linien über Synthesizer-Teppiche. Er begleitet sich quasi selbst.
Kritik und Einfluss
Als das Album 1979 erschien, waren die Kritiker gespalten, aber fasziniert. Die Puristen rümpften teilweise die Nase über den Einsatz von Synthesizern und die Studiotrickserei („Das ist kein echter Live-Jazz“). Die Visionäre jedoch erkannten, dass Surman hier Türen öffnete. Der Rolling Stone und Jazz-Magazine lobten die „hypnotische Qualität“ und die kühle Eleganz.
Surmans Einfluss auf das Genre ist massiv, wenn auch subtil. Er hat den Weg geebnet für den Ambient Jazz und den „Chamber Jazz“ (Kammerjazz). Künstler, die heute elektronische Loops mit Blasinstrumenten mischen (wie etwa Portico Quartet oder neuere Nordic-Jazz-Bands), stehen auf den Schultern von Alben wie Upon Reflection. Er zeigte, dass Jazz nicht immer „swingen“ muss, sondern auch „schweben“ darf.
Kunst vs. Emotion:
Zurück zu meiner Nachtsession mit dem Mark Levinson und den KEF Reference.
Man muss diese Art von Musik wollen und mögen. Es ist Kunst, zweifellos, und allein schon deshalb zeitlos und eine Reise wert. Aber ich muss ehrlich sein: Es löst in mir nichts aus. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Klangqualität des Albums bewertete – die phänomenale Auflösung des Levinson, die Präzision der KEFs – ohne mich der Musik wirklich hingeben zu können. Das Album bleibt für mich emotional verschlossen. Es ist ein technisches Meisterwerk, das mich nicht „abholt“.
Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Titel 1 ein absoluter „Blockbuster“ ist – ein Track für die Ewigkeit, der auch heute noch jede gute Anlage zum Glänzen bringt.
Trackliste und eine kurze Beschreibung:
1. Edges of Illusion (10:10) Der absolute „Blockbuster“ des Albums und mein persönliches Highlight. Ein hypnotischer Synthesizer-Loop legt das Fundament, über das Surman mehrere Saxophon-Spuren schichtet. Es klingt weit, sphärisch und erstaunlich modern – hier zeigt die Anlage, was sie in Sachen Raumabbildung kann.
2. Filigree (03:35) Der Titel ist Programm („Filigran“). Hier bricht die moderne Atmosphäre des ersten Tracks und weicht einem eher traditionellen, technischeren Jazz-Ansatz. Das Sopransaxophon tänzelt sehr schnell und komplex; für mich eher anstrengend als entspannend.
3. Caithness to Kerry (03:28) Ein kurzer Ausflug in folkloristische Gefilde. Der Titel verweist auf Orte in Schottland und Irland. Surman nutzt hier das tiefe Baritonsaxophon, was dem Mark Levinson erlaubt, Volumen und Körperhaftigkeit in den Raum zu stellen.
4. Beyond a Shadow (06:37) Ein sehr ruhiges, fast statisches Stück. Es lebt vom Hall (dem berühmten ECM-Reverb) und langen, getragenen Tönen. Klanglich sauber, musikalisch für mich jedoch zu abstrakt und ohne greifbaren Spannungsbogen.
5. Prelude and Rustic Dance (05:06) Beginnt verhalten und wechselt dann in einen rhythmischen, fast tänzerischen Teil. Hier hört man deutlich den Sound der späten 70er Jahre heraus. Es wirkt etwas kantig und sperrig.
6. The Lamplighter (06:19) Ein düsteres, melancholisches Stück, dominiert von tiefen Tönen. Es fordert viel Konzentration vom Hörer. Die Schwere der Musik wird vom Verstärker zwar kraftvoll übertragen, erreicht mich emotional aber nicht.
7. Following Behind (01:23) Ein sehr kurzes Intermezzo, das eher wie eine Überleitung oder eine kurze Skizze wirkt, bevor das Album zum Ende kommt.
8. Constellation (07:39) Der Ausklang des Albums kehrt etwas zu den sphärischen Ansätzen zurück, bleibt aber minimalistisch. Es plätschert ein wenig dahin, sehr typisch für den „kühlen“ europäischen Jazz dieser Ära, lässt einen aber etwas ratlos zurück.
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