
Anouar Brahem Anja Lechner Django Bates Dave Holland – After The Last Sky
Melodie der Tränen: Anouar Brahem und das ergreifende Echo des letzten Himmels – Ein audiophiles Zeugnis für Gaza
Anouar Brahem, Anja Lechner, Django Bates, Dave Holland – After The Last Sky
- Label: ECM Records – ECM 2838
- Format: CD, Album, Stream, Vinyl
- Land: Germany
- Veröffentlicht: 28. März 2025
- Genre: Folk, Jazz, World, & Country
- Stil: Contemporary Jazz
- Amazon Link: Anour Brahem
Das neueste Werk des tunesischen Oud-Virtuosen und Komponisten Anouar Brahem, „After The Last Sky“, ist eine tief empfundene musikalische Elegie, deren emotionale Schwere weit über die Grenzen des Albums hinausreicht. Es ist keine Musik, die laut aufbegehrt, sondern eine, die mit stiller Intensität das Unaussprechliche bezeugt – eine zutiefst menschliche und trauernde Reflexion über Heimatverlust und existenzielle Unsicherheit.
Brahem benennt dieses ECM-Werk nach einer Verszeile des unvergessenen palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish: „Wohin sollen die Vögel fliegen, nach dem letzten Himmel?“ Diese poetische Frage ist die metaphysische Klammer, die die elf Kompositionen zusammenhält. Sie impliziert das Ende aller Zuflucht, das Fehlen jeglicher schützender Hülle. Darwishs Poesie des Exils und des ständigen Kampfes um die eigene Existenz wird hier in Töne übersetzt, die sich mit erschütternder Relevanz in die aktuelle Zeit einschreiben.
Die Zerbrechlichkeit des Klangs: Oud und Cello im Dialog
Das Quartett, das Brahem für dieses gewichtige Projekt versammelt hat, ist von erlesener Sensibilität. Bass-Legende Dave Holland und der britische Pianist Django Bates sind vertraute Begleiter Brahems auf dem schmalen Grat zwischen arabischer Tradition und europäischem Jazz. Doch es ist die Hinzunahme der Cellistin Anja Lechner, die dem Klang des Albums seine einzigartige, wehmütige Textur verleiht.
Lechners Violoncello fungiert als eine Art Vox Humana – eine tiefe, vibrierende Stimme, die oft das erste und letzte Wort im musikalischen Raum hat. Ihr Spiel ist getragen von einer postsentimentalen Romantik, die perfekt mit der zarten Melancholie der Oud harmoniert. Während Brahems Oud die orientalischen Maqams in die Weite trägt, antwortet Lechners Cello mit Streichern, die nach Halt suchen und sich doch unaufhaltsam in der Endless Wandering verlieren.
Die Stücke sind getränkt von thematischen Bezügen: „The Sweet Oranges of Jaffa“ verweist auf eine verlorene Heimat, während „Edward Said’s Reverie“ eine Hommage an den großen palästinensischen Denker ist, dessen Ideen von Orientalismus und Kulturkritik hier eine zärtliche musikalische Würdigung erfahren. Es sind nicht nur Tonfolgen; es sind musikalische Erinnerungsorte.
Die audiophile Meisterleistung: ECM beweist seinen Anspruch
Wenn wir dieses Album nüchtern betrachten und es durch die strenge Linse eines Audiophilen beurteilen, bleibt nur ein Urteil: eine herausragende Aufnahme. Das Renommee von ECM-Produzent Manfred Eicher wird hier einmal mehr eindrücklich unter Beweis gestellt.
Die Klangbühne ist von beispielloser Transparenz, die Positionierung der Instrumente im Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano perfekt eingefangen. Die feinen Obertöne der Oud, die hölzerne Resonanz von Hollands Kontrabass und das subtile Ausschwingen von Bates‘ Klavier – alles steht klar und plastisch im Raum. Und genau diese High-End-Qualität sorgt dafür, dass die emotionale Botschaft ungefiltert im Hörraum ankommt. Die Trauer, die Idee, das Leid – alles wird vollends transportiert und lässt den Zuhörer auf einer gut abgestimmten Anlage jede Nuance spüren.
Schlusswort: Gefühl und Klang als Einheit
„After The Last Sky“ fragt nicht nach einer politischen Lösung; es fragt nach dem Überleben der Menschlichkeit. Diese Musik zelebriert die Schönheit einer Kultur, die bedroht und verwundet ist, und feiert damit indirekt ihre unzerstörbare Seele. Wer diese Platte auflegt, entscheidet sich für eine Stunde der ehrlichen Klage. Es ist die bittersüße Erkenntnis, dass selbst nach dem letzten Himmel noch eine Melodie bleiben kann – das traurige, aber standhafte Echo der menschlichen Seele.
Natürlich gibt es unter uns Menschen – und davon leider sehr viele – die man gerne als Klone bezeichnen könnte, die keinerlei Gefühle für ihre Mitmenschen zuzulassen scheinen. Für sie mag dies nur eine weitere, gut produzierte Jazz-Platte sein. Aber für jene, die ihr Gehör für die feinen Zwischentöne und ihr Herz für das universelle Leid geöffnet haben, ist dieses Album ein essentielles, audiophiles Zeugnis und eine tief bewegende Erfahrung. Ich frage mich ob die meisten Menschen verstehen, was vor unseren Augen passiert ist?
Es ist der Klang der Seele, die nicht schweigen will.
Titel des Albums: After The Last Sky
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Remembering Hind – 1:52
Ein kurzes, zartes Intro, das den Ton der Erinnerung und Melancholie setzt. Die Musik scheint ein behutsames Gedenken an eine Person oder einen Ort einzuleiten, oft getragen vom fragilen Klang der Oud. -
After The Last Sky – 5:42
Das titelgebende Stück, das die zentrale existenzielle Frage des Albums aufwirft. Eine lyrische, aber gedämpfte Komposition, in der die Instrumente die Suche nach dem verlorenen Horizont oder der letzten Zuflucht vertonen. -
Endless Wandering – 8:11
Eines der längsten und intensivsten Stücke, das das Thema des Exils und der Rastlosigkeit musikalisch umsetzt. Die ausgedehnte Melodie suggeriert eine unaufhaltsame, doch langsame Bewegung und einen Zustand der ständigen Vertreibung. -
The Eternal Olive Tree – 4:00
Die einzige Komposition, die Brahem gemeinsam mit Dave Holland schrieb. Die Olive ist ein mächtiges Symbol für Beständigkeit, Wurzeln und die palästinensische Verbindung zum Land. Das Stück strahlt eine ernste, geerdete Würde aus. -
Awake – 8:49
Ein weiteres ausgedehntes Stück, das möglicherweise das Erwachen angesichts der Realität oder das Hinaustreten aus einem Traumzustand thematisiert. Es beinhaltet oft Momente der musikalischen Dichte, die die innere Unruhe spiegeln. -
In The Shades Of Your Eyes – 4:27
Ein intimerer, lyrischer Titel, der Wärme und persönliche Nähe inmitten der Schwere sucht. Hier tritt oft das Cello von Anja Lechner in den Vordergrund, um eine besonders zärtliche und wehmütige Melodie zu tragen. -
Dancing Under The Meteorites – 4:25
Ein Titel, der eine gewisse Resilienz oder Trotz im Angesicht der Zerstörung suggeriert. Die Musik mag rhythmischer sein, das „Tanzen“ symbolisiert das Festhalten an der Freude, selbst wenn die Welt in Flammen steht (Meteoriten). -
The Sweet Oranges Of Jaffa – 7:13
Ein direkter Verweis auf die palästinensische Stadt Jaffa und ihre berühmten Zitrusfrüchte. Dieser Titel ist ein musikalisch verklärter Rückblick auf verlorene Heimat und ein melancholisches Gedenken an die Schönheit des Vergangenen. -
Never Forget – 7:49
Die Aufforderung im Titel macht dieses Stück zu einem zentralen Memento Mori des Albums. Es ist eine ernste, eindringliche Komposition, die die historische und menschliche Verantwortung der Erinnerung betont. -
Edward Said’s Reverie – 2:58
Eine kurze, tief empfundene Hommage an den bedeutenden palästinensischen Literaturtheoretiker und Intellektuellen Edward Said. Die Musik ist meist kontemplativ und spiegelt die Nachdenklichkeit seines Werks wider. -
Vague – 3:13
Das abschließende Stück, dessen Titel „vage“ oder „unklar“ bedeutet. Es entlässt den Zuhörer nicht mit einer klaren Lösung, sondern mit einem Gefühl der offenen Unsicherheit, die die tiefgründige Melancholie des gesamten Albums zusammenfasst.