
Tord Gustavsen Trio – Being There: Jazz voller Stille und Tiefe
Tord Gustavsen Trio – „Being There“: Klanggewordene Innenschau
- Label: ECM Records – ECM 2017, – 172 3517
- Format: CD, Album, Stereo, Streaming
- Country: Germany
- Released: April 20, 2007
- Genre: Jazz
- Style: Contemporary Jazz / Piano Jazz
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Zwischen nordischer Melancholie und spiritueller Tiefe
Tord Gustavsen, geboren am 5. Oktober 1970 in Oslo, wuchs in einem kleinen Ort in Ostnorwegen auf. Seine Kindheit war von ländlicher Ruhe und tief religiösem Umfeld geprägt – eine Atmosphäre, die sein musikalisches Schaffen bis heute durchzieht. Früh entdeckte er seine Leidenschaft für das Klavier und widmete sich zunächst autodidaktisch dem Spiel, ehe er an der Universität Oslo Musikwissenschaft und Psychologie studierte. Anschließend vertiefte er seine pianistische Ausbildung an der Norwegian Academy of Music, wo er sich intensiv mit Jazz, Kirchenmusik und Improvisation beschäftigte.
Die Geburt eines Trios – Musik als Dialog
Anfang der 2000er Jahre formierte sich das erste Tord Gustavsen Trio mit Harald Johnsen (Kontrabass) und Jarle Vespestad (Schlagzeug). Das Zusammenspiel der drei Musiker zeichnete sich von Beginn an durch eine beinahe telepathische Kommunikation aus – eine kammermusikalische Intimität, die weder auf Virtuosität noch auf Effekte setzt, sondern auf Reduktion, Substanz und Präsenz. Das 2003 erschienene Debütalbum Changing Places markierte den Auftakt zu einer Trilogie, die mit The Ground (2005) fortgesetzt wurde und schließlich im Album „Being There“ (2007) ihren klanglichen und emotionalen Höhepunkt fand.
ECM Records – Klangkultur als Kunstform
Wie die meisten meiner Leser mittlerweile wissen sollten, bin ich ein großer Bewunderer von ECM Records. Dieses Münchner Label weiß genau, wie man Musik nicht nur aufnimmt, sondern inszeniert, sodass der Zuhörer nicht bloß hört, sondern sich auf eine Entdeckungsreise begibt. Mit dem Album „Being There“ wird dieses Können abermals unter Beweis gestellt.
Bereits der erste Ton entfaltet eine Klangbühne, die nicht nur räumlich, sondern beinahe haptisch wirkt. Wenn die heimische Anlage in der Lage ist, diese Aufnahme in ihrer Tiefe wiederzugeben, geschieht etwas beinahe Magisches: Man schließt die Augen, versinkt in der Musik und fühlt sich hineingezogen in einen Raum, der von Gustavsen mit minimalistischer Poesie gefüllt wird.
Höreindruck – Musik, die nicht spielt, sondern spricht
„Being There“ ist ein Album, das nicht gespielt, sondern erzählt wird. Jeder Ton scheint eine Geschichte zu tragen, jede Pause spricht mit. Die Musik lebt von Stille, Andeutung und innerer Bewegung. Gustavsen spielt keine überladenen Harmonien, keine effekthascherischen Läufe – er formuliert Gedanken, wie man sie in stillen Momenten mit sich selbst führt.
Die Aufnahme wirkt dabei so realistisch, dass man das Gefühl hat, im selben Raum mit den Musikern zu sitzen. Der Bass von Harald Johnsen vibriert warm und körperlich, Jarle Vespestads Schlagzeug schwebt federleicht durch den Raum – und über allem liegt Gustavsens melancholisch leuchtendes Klavier, das niemals dominieren, sondern stets vermittelnwill. Man versteht nicht nur seine musikalische Idee – man fühlt die Emotion, die er mitteilen möchte.
Kritische Rezeption – leise Töne, große Wirkung
In der internationalen Jazzszene wurde Being There mit einhelligem Lob aufgenommen. Kritiker betonten die poetische Tiefe, die ungewöhnliche Ruhe und die Fähigkeit, mit minimalen Mitteln eine maximale emotionale Wirkung zu erzielen. Das Album gilt als ein Schlüsselwerk des europäischen Jazz der 2000er Jahre und wurde sowohl von Jazzpuristen als auch von Klassikliebhabern geschätzt – ein Brückenschlag zwischen Genres, Stimmungen und Seelenzuständen.
Fazit – Wenn Musik zur inneren Heimat wird
Being There ist weit mehr als ein Jazzalbum. Es ist ein klangliches Refugium – ein Ort der inneren Einkehr, der Stille und des bewussten Zuhörens. In einer Zeit, in der vieles laut, schnell und spektakulär ist, setzt Tord Gustavsen mit seinem Trio ein stilles, aber umso eindringlicheres Zeichen: Musik kann trösten, heilen und in ihrer Reduktion kraftvoller wirken als jedes orchestrale Pathos.
Die Musik auf Being There ist nicht dazu da, den Raum zu füllen – sie öffnet Räume. Sie fordert keine Aufmerksamkeit ein, sondern schenkt sie dem Hörer, wenn dieser bereit ist, sich einzulassen. Dieses Album lebt von Vertrauen – dem Vertrauen in die Kraft des Einfachen, in die Bedeutung von Pausen, in die Stärke von Reduktion. Und es lädt ein zu einem Dialog mit dem eigenen Inneren: Was spüre ich, wenn alles Äußere verstummt? Wo bin ich, wenn ich wirklich da bin?
Der Albumtitel Being There ist Programm: Es geht ums Dasein, ums Ankommen im Moment, darum, sich nicht im Tun, sondern im Sein zu erfahren. Das ist Musik, die nicht performt, sondern anwesend ist – und dadurch zur vielleicht ehrlichsten Form des Ausdrucks wird.
Hinzu kommt die exemplarische Klangqualität der Aufnahme: Wie bei vielen ECM-Produktionen sind die Mikrofone keine bloßen technischen Vermittler, sondern fast wie „Mitsehende“ – sie fangen nicht nur Klang, sondern Atmosphäre ein. Der Hörer wird nicht nur Zeuge, sondern Teil eines Geschehens, das sich zwischen den Tönen entfaltet – leise, intim, fast heilig.
In einer Welt voller Musik ist Being There eine Erinnerung daran, dass nicht die Menge der Noten, sondern die Qualität der Stille dazwischen den Unterschied macht. Tord Gustavsen gelingt das Kunststück, Spiritualität, Jazz, Volksliedhaftes und klassische Klarheit in ein ästhetisches Ganzes zu fügen – ohne je pathetisch zu wirken. Und gerade darin liegt die Größe dieses Albums: Es will nichts – und gibt dabei alles.
Tracklist – Being There
(Alle Kompositionen von Tord Gustavsen, außer Karmosin)
-
At Home – 6:11
Ein warmer, kontemplativer Einstieg. Die Melodie wirkt vertraut, fast wie ein inneres Heimkommen – getragen von Gustavsens sanfter Melancholie und rhythmischer Zurückhaltung. -
Vicar Street – 3:42
Leicht tänzelnd mit folkigen Untertönen. Benannt nach einem Veranstaltungsort in Dublin – das Stück vermittelt Leichtigkeit und eine subtile, lebendige Spannung. -
Draw Near – 3:51
Zärtlich und minimalistisch – ein Stück, das sich mit leiser Dringlichkeit nähert, fast wie ein Gebet oder eine vorsichtige Bitte um Nähe. -
Blessed Feet – 6:04
Ruhig, meditativ und tiefgründig. Die Komposition wirkt spirituell durchdrungen – eine Hommage an Bewegung, vielleicht an einen „heiligen Weg“. -
Sani – 2:36
Kurzes, inniges Klangbild, benannt nach einem Begriff aus dem südafrikanischen Kontext. Es vermittelt eine Ahnung von Weite und Ursprünglichkeit. -
Interlude – 2:18
Ein Übergangsstück, das wie ein tiefer Atemzug wirkt. Fast skizzenhaft, aber voller Gefühl – ein musikalischer Moment der Sammlung. -
Karmosin (Komposition: Harald Johnsen) – 5:08
Ein dunkler, erdiger Beitrag des Bassisten Harald Johnsen. Die Stimmung ist geheimnisvoller, mit einer leicht herben Farbigkeit – „Karmosin“ steht für Karminrot, das hier klanglich durchschimmert. -
Still There – 4:17
Zart und transparent. Ein musikalischer Gedanke, der wie ein leiser Nachhall im Raum steht – unaufdringlich, aber präsent. -
Where We Went – 4:45
Poetisch und rückblickend – die Melodie wandert wie durch Erinnerungen. Ein Stück über Orte, die nicht nur geografisch, sondern auch emotional sind. -
Cocoon – 5:48
Geborgen und introspektiv – das Trio zieht sich in ein klangliches Kokon zurück. Die Musik wirkt geschützt, aber nicht abgeriegelt – ein Ort der inneren Regeneration. -
Around You – 5:33
Ein liebevoller Kreis – die Musik kreist um ein imaginäres „Du“. Empfindsam und elegant in der Balance zwischen Nähe und Schweben. -
Vesper – 4:24
Wie ein Abendgebet – ruhig, klar und andächtig. Das Stück wirkt wie eine musikalische Lichtspur im Dämmerlicht. -
Wide Open – 4:39
Zum Abschluss öffnet sich der Horizont. Offenheit, Weite und Licht durchziehen dieses Stück – ein versöhnliches, fast hoffnungsvolles Finale.
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