CD Cover mit einer Landschaft

Anouar Brahem Dave Holland Jack DeJohnette & Django Bates- Blue Maqams

Zwischen Maqām und Moderne – Eine Hommage an das Album Blue Maqams

Im Jahr 2017 erschien mit Blue Maqams eines der eindrucksvollsten Alben des ECM-Katalogs – eine musikalische Begegnung von vier Persönlichkeiten, die sich auf höchstem Niveau begegnen, ohne sich gegenseitig zu dominieren. Das Album ist mehr als nur eine „Fusion“ von Kulturen. Es ist ein fein austariertes Klangkunstwerk, das die Tiefe arabischer Musiktradition mit der Offenheit des Jazz verbindet – und dabei eine fast spirituelle Qualität entfaltet.

Die Musiker – vier Wege, eine Begegnung

Anouar Brahem – Der poetische Architekt der Oud

Geboren 1957 in Halfaouine, einem Viertel der Altstadt von Tunis, ist Brahem nicht nur einer der führenden Oud-Spieler unserer Zeit, sondern auch ein Klangarchitekt, der seit den 1990er-Jahren auf ECM Brücken zwischen arabischer Musik, Jazz und Kammermusik baut. Ausgebildet am Institut Supérieur de Musique de Tunis und beeinflusst durch traditionelle Maqām-Musik, hat Brahem früh begonnen, die Oud aus ihrer folkloristischen Nische zu befreien und sie in moderne Klangräume zu führen. Werke wie Le Pas du Chat Noir oder Thimar (mit John Surman und Dave Holland) haben ihn als leisen, aber visionären Komponisten etabliert.

Dave Holland – Der melodische Fels am Bass

Dave Holland, 1946 in Wolverhampton (England) geboren, wurde in den 1960ern von Miles Davis entdeckt und für dessen legendäre Bitches Brew-Sessions rekrutiert. Holland entwickelte sich in den Jahrzehnten danach zu einem der gefragtesten Kontrabassisten der Welt, spielte u. a. mit Chick Corea, Joe Henderson, Herbie Hancock und in eigenen Formationen. Holland ist bekannt für seine melodische Tiefe und rhythmische Präzision – eine perfekte Ergänzung für Brahems Kompositionen, die viel Raum und inneres Hören verlangen. Bereits 1998 arbeiteten Brahem und Holland auf dem Album Thimar zusammen – Blue Maqams ist eine inhaltliche und personelle Weiterentwicklung dieser Linie.

Jack DeJohnette – Der Alchemist des Rhythmus

Jack DeJohnette, Jahrgang 1942, ist eine lebende Legende des Jazz-Schlagzeugs. Auch er war Teil der „elektrischen“ Miles-Davis-Phase, spielte jahrzehntelang im berühmten Keith Jarrett Trio (mit Gary Peacock) und ist bekannt für seine wandlungsfähige Spielweise – von explosivem Drive bis zu fast meditativer Zurückhaltung. Auf Blue Maqams erleben wir ihn eher in letzterer Rolle: kontrolliert, geschmackvoll, offen für feine Klangfarben. Seine Fähigkeit, nicht nur zu begleiten, sondern Räume zu öffnen, ist für dieses Projekt essenziell.

Django Bates – Der farbenreiche Freigeist

Der britische Pianist Django Bates (1960) ist vielleicht der ungewöhnlichste Teilnehmer dieser Konstellation. Bekannt wurde er mit der anarchisch-kreativen Bigband Loose Tubes und durch seine eigenwilligen Kompositionen. Seine Musik ist oft verspielt, ironisch, schräg – doch auf Blue Maqams zeigt er sich von einer anderen Seite: sensibel, klangbewusst, strukturell intelligent. Bates bringt harmonische Tiefe und subtile Verzierungen ein, die Brahems Maqām-Strukturen ergänzen, ohne sie zu übermalen. Es ist sein erstes Projekt mit Brahem, aber man hört keinerlei Brüche.


Wie es zu dieser Zusammenarbeit kam

Die Idee zu Blue Maqams entstand aus Brahems Wunsch, wieder mit einem jazzbasierten Quartett zu arbeiten – nach seinen eher kammermusikalisch geprägten Alben der 2000er-Jahre. ECM-Produzent Manfred Eicher, der die Kunst beherrscht, Musiker zueinander zu führen, stellte die Verbindung zwischen Brahem, Holland und DeJohnette erneut her. Mit Django Bates kam frisches harmonisches Vokabular ins Spiel – mutiger als in Thimar, aber nie aufdringlich.

Aufgenommen wurde das Album im Avatar Studio in New York – einem legendären Ort, an dem viele ECM-Produktionen der letzten Jahrzehnte entstanden. Die Aufnahme ist, wie bei ECM üblich, in natürlichem Raumklang gehalten: warm, transparent, dreidimensional.


Ein persönlicher Hörbericht

Natürlich lässt sich über ECM in Sachen Produktion nichts Negatives finden. Alle Alben, die ich von diesem Label besitze, sind herausragend – klanglich auf einem Niveau, das leider viele gar nicht kennen. Der Grund? Weil man musikalisch oft nicht über den Tellerrand hinausschaut. Oder weil man schlichtweg nicht die passende Anlage zu Hause hat, um in den echten Genuss solcher Aufnahmen zu kommen.

Blue Maqams ist orientalisch angehaucht, ja. Aber an alle Brauen da draußen: Nein – das ist kein Versuch, das Abendland zu islamisieren. Es geht schlicht und ergreifend um Musik. Musik, die träumen lässt, die uns in andere Sphären entführt, die ein Gefühl vermittelt, Mensch zu sein.

Der Klang der Oud trifft mich wie eine Stimme aus einer anderen Zeit. Holland zieht Linien mit dem Bass, die nicht begleiten, sondern erzählen. DeJohnette – unaufgeregt, aber voller Präsenz. Und Bates? Sein Spiel scheint zwischen den Noten zu atmen. Kein Ton zu viel, keiner zu wenig.

Fazit – Ein Klangraum zwischen Welten, Zeiten und Seelen

Blue Maqams ist weit mehr als ein musikalisches Zusammentreffen von Ost und West. Es ist ein Dialog ohne Dominanz, ein Miteinander von Persönlichkeiten, die sich ihrer Ausdruckskraft bewusst sind – und doch bereit, zuzuhören. Diese Musik sucht nicht den schnellen Effekt, sie verlangt Aufmerksamkeit, innere Ruhe und die Bereitschaft, sich auf etwas Ungewohntes einzulassen. Wer sich dieser Reise öffnet, wird reich belohnt.

Anouar Brahem gelingt es mit diesem Album, die alte arabische Kunst der Maqām-Improvisation – basierend auf jahrhundertealten Tonleitersystemen und emotionalen Zuständen – mit einer westlichen Improvisationsästhetik zu verschmelzen, ohne den einen oder anderen Pol zu verwässern. Die maqāmāt behalten ihre spirituelle Tiefe, das rhythmische und harmonische Gerüst des Jazz verleiht ihnen neuen Atem.

Dave Holland agiert dabei nicht nur als Fundament, sondern als melodischer Erzähler – sein Spiel ist voller innerer Ruhe und doch voller Ideen. Jack DeJohnette zeigt einmal mehr, dass sein Schlagzeugspiel nicht von Takt und Tempo lebt, sondern von Empathie, Reaktionsfähigkeit und Klangbewusstsein. Und Django Bates, eigentlich für seine exzentrischen Eskapaden bekannt, beweist hier ein Maß an Zurückhaltung und stilistischer Sensibilität, das man in dieser Form selten hört. Sein Klavierspiel ist nicht nur technisch beeindruckend – es ist vor allem poetisch.

Die Produktion – wie bei ECM üblich – ist makellos. Jeder Ton sitzt im Raum, jede Nuance wird hörbar. Nichts ist überproduziert, nichts geschönt – es ist der natürliche Klang eines musikalischen Gesprächs auf höchstem Niveau. Man hört nicht nur Instrumente, sondern Räume, Bewegungen, das Ein- und Ausatmen eines musikalischen Organismus.

Blue Maqams ist ein Werk für aufmerksame Hörerinnen und Hörer – und vielleicht auch ein stilles Plädoyer dafür, wie wichtig es ist, kulturelle Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung zu verstehen. Hier islamische Musiktradition, dort westliche Improvisationskunst – doch nie geht es um Repräsentation, sondern um Ausdruck. Um Sehnsucht, Melancholie, Hoffnung, Stille.

In einer Zeit, in der vieles laut, flach und schnelllebig geworden ist, erinnert uns dieses Album daran, was Musik im tiefsten Sinne sein kann: ein Raum der Begegnung, des Respekts, der menschlichen Tiefe. Blue Maqams ist nicht nur ein Album, es ist ein Erlebnis – und eine Einladung, innezuhalten und einfach zu hören.

Trackliste:

1. Opening Day – 7:01
Ein atmosphärischer Auftakt, der mit leisen Oud-Klängen und sparsamen Piano-Akzenten beginnt. Die Musik entfaltet sich wie das erste Licht eines neuen Tages – meditativ, tastend und voller Verheißung.

2. La Nuit – 10:28
Dunkel, introspektiv und langsam atmend. Dieses Stück gleicht einem nächtlichen Streifzug durch seelische Landschaften. Das Zusammenspiel der Musiker ist hier besonders feinnervig und dialogisch.

3. Blue Maqams – 8:41
Der titelgebende Track – eine poetische Verbindung von arabischer Tonkunst (Maqam) mit jazziger Offenheit. Der Blues schwingt eher als Gefühl mit, nicht als formale Struktur. Melancholisch und voller Tiefe.

4. Bahia – 8:45
Eine Hommage an ferne Küsten, vielleicht an Brasilien, vielleicht auch nur an den Klang der Sehnsucht selbst. Rhythmisch geschichtet, dabei stets fließend und warm.

5. La Passante – 4:05
Das kürzeste Stück des Albums – wie eine flüchtige Begegnung in einer überfüllten Straße. Melodisch leichtfüßig und zart, fast kammermusikalisch im Charakter.

6. Bom Dia Rio – 9:23
Lebendig und rhythmisch akzentuiert. Der Titel („Guten Morgen Rio“) suggeriert südamerikanisches Flair, das sich jedoch ganz subtil im Spiel der Rhythmen und Melodien andeutet – kein Zitat, eher ein Echo.

7. Persepolis’s Mirage – 8:06
Ein imaginärer Blick in die persische Geschichte – majestätisch und schwebend zugleich. Die Musik evoziert archaische Bilder und verweilt im Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Illusion.

8. The Recovered Road To Al-Sham – 9:26
Ein Stück mit starkem narrativen Charakter. „Al-Sham“ steht für die historische Levante – Syrien, Palästina, Libanon. Die Musik wirkt wie eine spirituelle Rückkehr zu einem Ort, der von Geschichte und Verlust durchdrungen ist.

9. Unexpected Outcome – 10:59
Ein epilogartiger Schlusspunkt. Das Stück beginnt fast entrückt und steigert sich in ein komplexes musikalisches Gespräch. Es wirkt wie eine offene Frage – und ist doch ein würdiger Abschluss dieser musikalischen Reise.

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