John Martyn und sein spätes Meisterstück The Church with One Bell

John Martyn und sein spätes Meisterstück The Church with One Bell

Der Maverick und sein Gesangbuch: John Martyns „The Church with One Bell“

  • Label: Independiente – ISOM 3LP
  • Format: Vinyl, LP, Album, CD, Stream
  • Land: UK / Schottland
  • Veröffentlicht: 23. März 1998
  • Genre: Rock / Blues
  • Stil: Folk Rock, Experimental, Blues, Cover
  • Amazon Link: John Martyn

Wenn man den Namen John Martyn (Iain David McGeachy) in den Mund nimmt, spricht man nicht einfach nur von einem Musiker. Man spricht von einem Maverick, einem kompromisslosen Grenzgänger, dessen Vita selbst für einen Rock’n’Roll-Barden der alten Schule bemerkenswert kurvenreich war. Sein Werk ist eine Blaupause dafür, wie man Genregrenzen nicht nur ignoriert, sondern sie elegant zu einem neuen Ganzen verschmelzen lässt.

Der Werdegang: Vom Folksänger zum Trip-Hop-Pionier

John Martyn wurde 1948 in New Malden geboren, wuchs aber nach der Scheidung seiner Eltern, beides Opernsänger, größtenteils bei seiner Großmutter in Glasgow auf. Die musikalische Prägung war früh da, doch seine wahre Reise begann, als er mit 15 Jahren zur Gitarre griff. Sein erster Mentor war der traditionelle schottische Folk-Sänger Hamish Imlach. Mit gerade einmal 17 Jahren startete Martyn seine Solokarriere in Schottland, bevor er ein Jahr später in die pulsierende Folk-Club-Szene Londons wechselte.

Die frühen Alben wie London Conversation (1967) und The Tumbler (1968) waren noch tief im traditionellen Folk verwurzelt, aber schon bald begann Martyn, nach einem freieren Stil abseits des Mainstream zu suchen. Befeuert von Einflüssen aus Jazz (insbesondere dem späten John Coltrane), Blues und irischer Musik, begann er mit dem Einsatz der elektrischen Gitarre und experimentierte mit Echoplex, Fuzzbox und Phasenverschiebern – Effekte, die seinen Sound bis zum Ende prägen sollten. Er kreierte einen einzigartigen, warmen, aber ungemein intensiven Sound, der ihn später sogar zum Ambient-Pionier machte (man denke nur an Solid Air). Er verweigerte sich stets der einfachen Schublade des Folksängers und vereinte in seiner Musik Blues, Jazz, Rock, Reggae und Pop zu einer unverwechselbaren, oft unterschätzten Mischung.

Das späte Meisterstück: „The Church with One Bell“ (1998)

Nach über 30 Jahren im Geschäft und einer ganzen Reihe von Meisterwerken und persönlichen Krisen meldete sich Martyn 1998 mit einem seiner ungewöhnlichsten und stärksten Alben zurück: „The Church with One Bell“. Dies war kein Album neuer Eigenkompositionen, sondern ein Coveralbum – und was für eines. Es zeigt Martyns unglaubliches Gespür, Songs nicht einfach nur nachzuspielen, sondern sie von Grund auf neu zu interpretieren und sich völlig zu eigen zu machen.

Die Songauswahl ist dabei ein Statement für sich: Wie sonst könnte man Cover von Randy Newman (God’s Song), der Trip-Hop-Band Portishead (Glory Box), dem Blues-Standard The Sky Is Crying und dem ikonischen Billie Holiday-Stück (Strange Fruit) auf einem einzigen Album vereinen? Martyn taucht mit seiner tiefen, rauchigen Stimme in die Essenz dieser Lieder ein und zieht sie in seinen eigenen, unnachahmlichen musikalischen Kosmos.

Für mich gehört dieses Album zu den stärksten von John Martyn. Es ist sehr gut durchhörbar. Der Groove, die Musikalität und die einzigartige Stimme von ihm lassen sehr tief in die Gesichte, die er zu erzählen hat, ein. Auch die Aufnahme-Qualität ist über jeden Zweifel erhaben.

Abseits der musikalischen Genialität überzeugt „The Church with One Bell“ auch auf technischer Ebene vollständig. Die Produktion, die in nur einer Woche in den CaVa Sound Studios in Glasgow entstand, ist bemerkenswert organisch und detailreich. Die Aufnahme besitzt eine audiophile Qualität, die in den späten 90er Jahren nicht selbstverständlich war. Man spürt förmlich die Intimität der Aufnahmeumgebung: Martyns Gesang wird warm und präsent eingefangen, ohne künstliche Hall- oder Kompressions-Effekte, wodurch seine charakteristische Phrasierung und der rauchige Timbre unverfälscht zur Geltung kommen.

Die Instrumente – insbesondere der Kontrabass und die Akustikgitarre – sind präzise im Stereo-Panorama positioniert, was zu einem exzellenten Headroom und einer seltenen Klarheit in den Tiefen und Mitten führt. Diese Transparenz sorgt dafür, dass das Album auch auf hochwertigen Anlagen nicht nur „gut“, sondern tief durchhörbar klingt. Es ist diese ehrliche, raue, aber hochqualitative Klangästhetik, die die emotionale Tiefe von Songs wie Strange Fruit oder God’s Song noch verstärkt.

Dieses Album wurde in nur einer Woche in den CaVa Sound Studios in Glasgow, Schottland eingespielt. Martyn produzierte es zusammen mit dem Blues-Experten Norman Dayron, der bereits mit Legenden wie Muddy Waters und Howlin‘ Wolf gearbeitet hatte. Das Ergebnis ist eine intime, organische Aufnahme, die Martyns Vokal-Performance und das hervorragende Zusammenspiel mit seinen langjährigen Begleitern (darunter Spencer Cozens an Keyboards und John Giblin am Bass) perfekt einfängt.

„The Church with One Bell“ ist nicht nur ein Album mit Cover-Songs. Es ist eine faszinierende Predigt über das Leben, den Blues und die Fähigkeit, über Genregrenzen hinweg die Seele eines Liedes freizulegen. Es ist das Werk eines Mannes, der bis zuletzt seiner künstlerischen Neugier folgte und das ist es, was John Martyn in der Musikgeschichte unsterblich macht.

Schlusswort: Das Echo im Turm der Einsamkeit

„The Church with One Bell“ steht nicht nur als ein weiteres Album in John Martyns beeindruckender Diskografie, es markiert einen tiefgründigen, beinahe meditativen Ruhepol in der oft turbulenten Karriere des schottischen Mavericks. Es ist die musikalische Manifestation eines Mannes, der gelernt hat, die Zerbrechlichkeit und die Schönheit der menschlichen Existenz durch die Linsen anderer Künstler zu betrachten – und diese Linsen mit seiner eigenen einzigartigen Patina zu überziehen.

Die Tatsache, dass dieses Album fast ausschließlich aus Cover-Songs besteht, ist keineswegs ein Zeichen von Ideenlosigkeit, sondern das Gegenteil: Es ist ein Akt der musikalischen Alchemie. Martyn nimmt Lieder, die von den unterschiedlichsten Ecken des musikalischen Spektrums stammen – vom minimalistischen Trip-Hop eines Portishead bis zum tiefen, historischen Kummer von Strange Fruit – und gießt sie in eine Form, die nur ihm gehören kann. Diese Vereinnahmung ist so vollständig, dass die Originale fast in den Hintergrund treten.

Sein tiefer, oft nuschelnder, dabei aber seelenvoller Gesang – eine Stimme, die durch Jahre des Lebens und des Rauchens gehärtet wurde – ist der eigentliche Glockenschlag dieser „Kirche mit nur einer Glocke“. Er klingt nicht nur, als hätte er die Geschichten in diesen Liedern gehört, sondern als hätte er sie alle gelebt. Ob er nun die zynische Weltbetrachtung von Randy Newmans God’s Song liefert oder die zerbrechliche Sehnsucht in Glory Box einfängt – Martyns Interpretation ist immer unmittelbar und authentisch.

Dieses Album ist ein essenzielles Hörerlebnis, weil es die Brücke schlägt zwischen John Martyns Folk-Wurzeln, seinem Jazz und Blues-Einfluss und seinem unvermeidlichen Hang zum musikalischen Experiment. Es ist ein Beweis dafür, dass wahre Meisterschaft nicht nur im Erschaffen, sondern auch im tiefen Verstehen und Neuinterpretieren liegt. Es ist ein intimes, raues und letztlich zeitloses Dokument, das uns daran erinnert, dass die größte Kunst oft diejenige ist, die sich am wenigsten darum schert, populär oder leicht zugänglich zu sein. Es ist ein Abschiedsgruß an die Genregrenzen und eine herzliche Einladung, tief in die Seele eines der größten britischen Singer-Songwriter einzutauchen.

Titelbeschreibung:

„The Church with One Bell“: Titel und Interpretationen im Detail

  1. He’s Got All the Whiskey (3:17), ursprünglich von Bobby Charles. Martyn verwandelt dieses Swamp-Pop-Original in einen eleganten, von Jazz durchzogenen Soul-Blues, der die Melancholie des Textes sanft aufgreift.
  2. God’s Song (3:28), die brillante, klaviergetriebene Ballade von Randy Newman. Martyns raue Stimme erhält den satirischen Zynismus des Originals, fügt ihm aber eine Schicht existenzialistischer Düsternis hinzu, die tief bewegt.
  3. How Fortunate the Man with None (4:57) – ursprünglich von Dead Can Dance mit Texten von Bertolt Brecht – wird zu einem atmosphärischen, fast filmischen Hörerlebnis. Es ist ein Stück, das von Martyns tiefer Ernsthaftigkeit und minimalistischen Klangflächen getragen wird.
  4. Small Town Talk (2:50), ein Song von Bobby Charles und Rick Danko, ist ein kurzer, lockerer und fließender Folk-Blues. Er fühlt sich an wie ein spätabendliches, entspanntes Gespräch in einer verrauchten Bar, angetrieben von einem leichten, jazzigen Groove.
  5. Excuse Me Mister (4:35) covert Martyn einen Song von Ben Harper. Er bricht den Reggae-lastigen Roots-Rock des Originals auf und taucht mit seiner tiefen Stimme in die soulige Intensität des Songs ein.
  6. Strange Fruit (4:02), der ikonische Anti-Rassismus-Song, bekannt durch Billie Holiday. Martyn liefert hier eine seiner stärksten Leistungen: eine schmerzhaft reduzierte und minimalistische Vokal-Performance, die das Grauen und die Schwere des Themas unvermittelt vermittelt.
  7. The Sky Is Crying (4:02) von Elmore James ist ein klassischer, leidenschaftlicher Blues-Standard. Martyn beweist mit dieser gitarrenbasierten Darbietung eindrücklich seine tiefen Wurzeln im traditionellen Blues.
  8. Glory Box (5:43), ist eine Cover-Version des Trip-Hop-Klassikers von Portishead. Martyn verwandelt das Stück in einen rauchigen, atmosphärischen Blues, dessen repetitive Struktur perfekt zu seiner unverwechselbaren, warmen Phrasierung passt.
  9. Feel So Bad (3:29), ein Blues-Song, oft Lightnin‘ Hopkins zugeschrieben, sorgt mit seinem entspannten Blues-Groove für eine willkommene Auflockerung, bevor das Finale einsetzt.
  10. Death Don’t Have No Mercy (5:46) – Ein tiefgründiges Blues-Gospel-Stück von Reverend Gary Davis. Es bildet das düstere, epische Finale des Albums.

Das Album schließt mit Death Don’t Have No Mercy (5:46) von Reverend Gary Davis. Dieses tiefgründige, fast sechsminütige Blues-Gospel-Stück über die Unausweichlichkeit des Todes bringt das Album zu einem epischen und nachdenklichen Abschluss.

Quellennachweise:

Zur Biografie und dem Werdegang:

  • John Martyn (Iain David McGeachy) wurde 1948 geboren. Seine Eltern waren Opernsänger, und er wuchs nach deren Scheidung größtenteils bei seiner Großmutter in Glasgow auf John Martyn – Infos und News und Videos – ByteFM.
  • Seine Musik vermischte von Anfang an verschiedene Stile und er wurde für seine Fähigkeit gefeiert, die Grenzen zwischen Folk, Jazz, Rock und Blues verschwimmen zu lassen John Martyn – Wikipedia.
  • Er wurde im Dezember 2008 kurz vor seinem Tod zum Officer of the Order of the British Empire (OBE) ernannt John Martyn – Wikipedia.

Zu Album und Produktion:

Zur Tracklist und den Cover-Songs: