Eine CD Hülle mit einem Mann in schwarz weiß der eine Stimmgabel in der Hand hält

Johann Heinrich Scheibler und 440HZ

Johann Heinrich Scheibler: Der geniale Seidenfabrikant, der die Musikwelt revolutionierte

Einleitung: Der vergessene Vater des modernen Kammertons

In der Welt der Musik ist der Kammerton A=440 Hz heute eine unumstößliche Tatsache. Doch kaum jemand kennt den Mann, der diesen Standard bereits im frühen 19. Jahrhundert vorhersah: Johann Heinrich Scheibler. Dieser außergewöhnliche rheinische Seidenfabrikant war nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer, sondern auch ein autodidaktischer Wissenschaftler, dessen akustische Forschungen die Musikwelt nachhaltig veränderten. Seine Geschichte ist ein faszinierendes Kapitel deutscher Wissenschafts- und Industriegeschichte – und sie hat eine überraschende politische Wendung: Die endgültige Durchsetzung von 440 Hz als Standard erfolgte ausgerechnet unter den Nationalsozialisten, initiiert von Joseph Goebbels.

Kindheit und Herkunft: Aufgewachsen in der Blütezeit der Rheinischen Textilindustrie

Johann Heinrich Scheibler wurde am 11. November 1777 in Montjoie (heute Monschau) geboren, einem malerischen Städtchen in der Eifel, etwa 200 Kilometer westlich von Frankfurt gelegen. Die Region war damals ein bedeutendes Zentrum der Textilproduktion, und die Familie Scheibler gehörte zu den tonangebenden Industriellen.

Sein Vater, ebenfalls Johann Heinrich Scheibler (1745–1806), war nicht nur ein erfolgreicher Seidenfabrikant, sondern auch ein angesehenes Mitglied der städtischen Elite. Als Stadtrat und führender Unternehmer pflegte er weitreichende Kontakte in ganz Europa. Die Familie handelte mit Luxusstoffen für europäische Adelshäuser und war Teil eines internationalen Netzwerks von Textilhändlern.

Das Familienimperium: Textilbarone mit europäischen Verbindungen

Die Familie Scheibler gehörte zu den reichsten Familien der Region. Ihr Unternehmen war Teil eines größeren Familienverbundes mit Niederlassungen in Krefeld und Aachen. Besonders eng war die Verbindung zu den berühmten Seidenfabrikanten von der Leyen in Krefeld, die zu den bedeutendsten Textilunternehmern Europas zählten.

Interessanterweise war die Familie auch mit dem preußischen Hof verbunden. Ein Verwandter, Christoph Scheibler, hatte als Hofrat in Berlin gedient. Diese elitären Kontakte verschafften dem jungen Johann Heinrich Zugang zu wissenschaftlichen Kreisen, die sonst für einen Kaufmannssohn unerreichbar gewesen wären.

Vom Kaufmann zum Wissenschaftler: Eine ungewöhnliche Karriere

Obwohl für eine kaufmännische Laufbahn vorgesehen, entwickelte Scheibler früh eine Leidenschaft für die Wissenschaft. Anders als viele seiner Zeitgenossen beschränkte er sich nicht auf reine Geschäfte, sondern nutzte den Wohlstand der Familie, um seinen Forschungsinteressen nachzugehen.

Sein besonderes Interesse galt der Akustik und Musiktheorie. In einer Zeit, als die Tonhöhen noch regional stark variierten (manche Orchester spielten bei 415 Hz, andere bei 450 Hz), begann er systematisch die physikalischen Grundlagen der Tonerzeugung zu erforschen.

Revolutionäre Erfindungen: Der Tonmesser und die Stimmgabel-Experimente

Scheiblers bedeutendste Erfindung war der sogenannte „Tonmesser“ (1834), ein Gerät zur präzisen Frequenzmessung. Dabei handelte es sich um eine Art Stimmgabel-Komparator, mit dem er Frequenzen auf wenige Schwingungen genau bestimmen konnte.

Für seine Experimente konstruierte er einen Satz von 52 genau berechneten Stimmgabeln, die er in einem speziellen Rahmen anordnete. Durch den Vergleich dieser Stimmgabeln konnte er erstmals Tonhöhen wissenschaftlich exakt vergleichen und standardisieren.

Die „Stuttgarter Tonhöhe“: Warum gerade 440 Hz?

Scheiblers Forschungen führten ihn zu der Überzeugung, dass 440 Hz die ideale Referenzfrequenz darstellte. Diese Empfehlung wurde als „Stuttgarter Tonhöhe“ bekannt – nicht weil Scheibler aus Stuttgart stammte (er blieb zeitlebens in Monschau), sondern weil seine Ideen dort besonders viel Anklang fanden.

Stuttgart war damals ein Zentrum des Instrumentenbaus und der Musikwissenschaft. Scheibler korrespondierte mit dortigen Gelehrten und Instrumentenbauern, die seine Theorien praktisch umsetzten. Sein 440 Hz-Vorschlag basierte auf mehreren Überlegungen:

  • Klangqualität: Höhere Frequenzen ergaben einen brillanteren, durchsetzungsfähigeren Klang.
  • Instrumentenbau: Die Spannung der Saiten und die Belastung der Holzblasinstrumente war in diesem Bereich optimal.
  • Stimmbarkeit: Die Frequenz ließ sich mit damaligen Mitteln relativ genau reproduzieren.

Der lange Weg zum Weltstandard: Goebbels und die NS-Zeit

Obwohl Scheibler seine Theorien bereits in den 1830er Jahren veröffentlichte, dauerte es bis 1939, bis 440 Hz international anerkannt wurde. Einer der entscheidenden Akteure dieser endgültigen Durchsetzung war ausgerechnet Joseph Goebbels, der NS-Propagandaminister.

Goebbels‘ Rolle bei der Einführung von 440 Hz

  • 1938 ordnete das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Goebbels an, den Kammerton auf 440 Hz festzulegen.
  • Ziel war eine Vereinheitlichung für Rundfunk, Film und Konzertbetrieb – wichtig für die NS-Kulturpolitik.
  • 1939 wurde der Standard auf der Internationalen Stimmtonkonferenz in London bestätigt – auch aufgrund deutschen Drucks.

Goebbels nutzte die Standardisierung als Machtinstrument: Eine einheitliche Stimmtonhöhe passte perfekt in die NS-Ideologie von Kontrolle und Gleichschaltung. Ironischerweise setzte er damit eine Idee durch, die ein rheinischer Seidenfabrikant 100 Jahre zuvor entwickelt hatte.

Fazit: Ein rheinischer Leonardo da Vinci – und ein ungewöhnliches NS-Erbe

Johann Heinrich Scheibler war in vieler Hinsicht ein Universalgelehrter der rheinischen Industriezeit – Kaufmann und Wissenschaftler in einem. Seine Arbeiten zur Akustik verbinden sich mit der Geschichte der Industrialisierung, der Musik und der Standardisierung.

Sein Leben erinnert uns daran, dass große Innovationen oft von unerwarteter Seite kommen – in diesem Fall von einem Seidenfabrikanten aus der Eifel, der die Welt der Musik für immer verändern sollte. Dass ausgerechnet die Nationalsozialisten seinen Standard endgültig durchsetzten, ist eine historische Ironie, die zeigt, wie Wissenschaft und Politik sich oft auf unvorhergesehene Weise verbinden.

Heute ist 440 Hz weltweit etabliert – ein Vermächtnis, das sowohl auf Scheiblers Genialität als auch auf die Machtpolitik des 20. Jahrhunderts zurückgeht.

Quellen zu Johann Heinrich Scheibler und seinen akustischen Forschungen:

  1. Klaus Hortschansky:
    „Zur Geschichte des Kammertons“
    In: Die Musikforschung, Band 12, Heft 3 (1959), S. 259–276.
    → Dieser Fachartikel enthält ausführliche Informationen über Scheiblers Forschungen und seine Rolle bei der Standardisierung der Tonhöhe.

  2. Scheibler, Johann Heinrich (1834):
    „Der physikalisch-musikalische Tonmesser“
    – Originalveröffentlichung seiner Erfindung zur Frequenzmessung, digitalisiert verfügbar über Bibliotheken wie Google Books oder Archive.org.

  3. Albert Frick:
    „Die Familie Scheibler: Geschichte einer Montjoier Seidendynastie“,
    Monschau, 1982.
    → Regionale Monographie zur Familie Scheibler mit biographischen Details zu Johann Heinrich Scheibler.


Zur Geschichte des Kammertons A=440 Hz und der Stuttgarter Tonhöhe:

  1. Fritz Winckel:
    „Musik und Technik“
    Springer-Verlag, Berlin, 1970.
    → Enthält Abschnitte über die Vereinheitlichung des Kammertons und die Rolle deutscher Akustiker.

  2. The New Grove Dictionary of Music and Musicians (Online & Print)
    → Eintrag: „Pitch standards“
    → Enthält einen Überblick zur Entwicklung von Tonhöhenstandards mit Hinweis auf Scheiblers Beitrag.

  3. Deutsches Museum München – Sammlung Musikinstrumente und Akustik
    → Exponate und Dokumente zum Tonmesser und zu frühen Frequenzmessungen:
    https://www.deutsches-museum.de


Zur Rolle der Nationalsozialisten und Goebbels bei der Normierung:

  1. Michael Kater:
    „The Twisted Muse: Musicians and Their Music in the Third Reich“,
    Oxford University Press, 1997.
    → Beleuchtet die NS-Kulturpolitik und die Vereinheitlichung musikalischer Normen.

  2. Jörg Jochen Berns (Hg.):
    „Hören – Wissen – Glauben: Akustik als Experiment und Erfahrung“,
    Akademie Verlag, Berlin, 2002.
    → Enthält Aufsätze zur Geschichte der Akustik, darunter auch zur Standardisierung des Kammertons im Dritten Reich.

  3. Protokolle der Internationalen Stimmtonkonferenz (London 1939)
    – Teilweise einsehbar über das British Library Archive bzw. Fachbibliotheken (z. B. Hochschule für Musik und Theater München).


Zusätzliche Online-Quellen und Datenbanken:

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